Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
zuschriebe. So etwas hört niemand gerne, es gibt einem ein Gefühl von Schwäche, von Schutzlosigkeit. Tatsächlich macht es einem die größte Angst überhaupt, wenn man überzeugt ist, daß ausgerechnet derjenige, der uns helfen sollte, sich in dem Moment, wo eine Sache schiefläuft oder mißlich wird, davonmachen, sich entziehen und uns hängen lassen wird, oder schlimmer noch, daß er uns die Schuld zuschieben wird, um sich selbst zu retten. Wenn auch du das so wahrnimmst, dann darfst du es Bertie nicht erzählen, in dem Punkt müßtest du lügen oder es jedenfalls verschweigen. Und wenn er es wahrnimmt, dann mußt du versuchen, ihn vorsichtig zu überzeugen, daß Incompara nicht so ist, daß er diesen Charakterzug nicht hat.« Sie machte eine winzige Pause, und ihr Blick wurde abwesend, als würde sie tatsächlich denken oder analysieren, während sie gleichzeitig sprach, und das tun nur die wenigsten. »Dieser Zug ist mit am schwierigsten zu erkennen, ebenso wie sein Gegenteil. Hier geraten wir am meisten ins Schleudern, und selbst wenn wir uns sicher zu sein glauben, bleibt uns immer ein Rest Zweifel, der erst dann verfliegt, wenn sich uns eine Gelegenheit bietet, es zu überprüfen. Es bedarf daher keiner besonderen Anstrengung, diesen Zweifel zu säen. Was die Leute zu diesem Punkt, zur Frage ihres Mutes oder Kleinmuts, äußern oder verkünden, das taugt so gut wie nichts. In Wahrheit ist es das, was sie am besten zu verbergen wissen, aber das trifft es noch nicht mal genau: In den meisten Fällen machen sie das so gut, weil sie es in Wirklichkeit nicht wissen, so wie der Neuling, der seine Feuertaufe noch vor sich hat. Die Leute stellen sich aufgrund ihrer Wünsche und Befürchtungen vor, wie sie reagieren werden; aber fast niemand von uns kann mit Gewißheit sagen, wie er in einer riskanten Situation handeln wird. Wir finden es allenfalls heraus, wenn man uns auf die Probe stellt, aber dazu kommt es in unserem normalen Leben nicht oft, womöglich passiert es niemals, das übliche ist, daß wir die Tage ohne große Schrecken oder Gefahren hinter uns bringen … Und es gibt uns nicht die geringste Sicherheit, zu wissen, daß wir uns bei einem konkreten Anlaß mutig oder feige verhalten haben, weil wir beim nächsten ganz anders handeln könnten, sogar in der gegensätzlichen Weise. Weder Unerschrockenheit noch Panik sind uns garantiert, und wenn man sich von dieser Seite nicht kennt, dann ist es ein enormes Verdienst, wenn ein Beobachter, ein Deuter imstande ist, es bei einem anderen richtig zu beurteilen, das heißt, wenn er vorhersehen kann, was selbst der Betroffene nicht weiß, der Betroffene ist in dieser Hinsicht halbblind. Deshalb, unter anderem, bist du ja hier: Du hast ein gutes Auge, um diesen Wesenszug zu erkennen, besser noch als das von Rendel, und das ist nicht meine Meinung, sondern ich habe es von Bertie gehört, und bei ihm fließt das Lob nur tröpfchenweise. Sicher traut er dir in diesem Bereich mehr zu als jedem anderen, sogar mehr als sich selbst. Es wird dich also keine große Mühe kosten, ihn hier zum Wanken zu bringen, was du ihm sagst, wird seine Wirkung nicht verfehlen. In anderer Hinsicht würde dir das schwerer fallen, zum Beispiel wenn es um das Fehlen von Skrupeln geht, um Incomparas Härte gegenüber denen, die er in der Hand hat, um seine vorher erwähnte delegierte Brutalität. Doch in all diesen Dingen müßtest du nicht lügen, nicht einmal schweigen; wie schon gesagt, sie wären für diejenigen, die ihn überprüfen lassen, kein Hindernis, sich mit ihm zusammenzutun oder ihn aufzunehmen oder was auch immer, sondern eher Vorteile und Tugenden. Feigheit dagegen nicht, in ihr liegt kein Nutzen. Sie ist für niemanden wünschenswert. Ich meine natürlich die des anderen, nicht die eigene. Mit der eigenen kommen wir alle zu Ende.« Auch hier fand sie den spanischen Ausdruck nicht und übersetzte wörtlich ›to come to terms with‹, was ›zurechtkommen‹ bedeutet oder ›akzeptieren‹ oder ›einen Kompromiß finden‹ oder ›zu einer Einigung gelangen‹. Oder auch ›etwas angehen‹. Vielleicht war sie wirklich ein wenig müde oder betrunken, ohne es sich weiter anmerken zu lassen. In solchen Momenten lassen einen Sprachkenntnisse am häufigsten im Stich.
Es stimmte, fast niemand weiß das, nicht einmal dann, wenn er schon auf die Probe gestellt wurde. Hätte man mich in jener Nacht gefragt, wie ich angesichts eines Mannes reagieren würde, der in einer
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