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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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seinen Sinnen, an seiner Erinnerung und an seiner Vorwegnahme der Zukunft, die er manchmal für Vorwissen hält. ›Die Sache war nicht so. Das, was geschehen wird, wird nicht geschehen oder wird nicht geschehen sein. Das hier passiert nicht‹, so lautet die beständige Litanei, die Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart verfälscht, und so ist nichts fest und unversehrt und sicher und auch nichts wahr. Alles, was existiert, existiert nicht oder trägt seine Nichtexistenz in sich, die vergangene und die künftige, es dauert nicht und hält sich nicht, und selbst die gravierendsten Ereignisse sind prekär und suchen und durchlaufen am Ende das unvollkommene Vergessen, das auch nicht beständig ist und nichts festigt oder in Sicherheit bringt. Deshalb scheinen alle Dinge zu sagen ›Ich bin noch, also ist es sicher, daß ich gewesen bin‹, solange sie sich noch hinziehen und ausweiten und nicht vorüber sind. Vielleicht ist das ihre hilflose Art, sich an die Gegenwart zu klammern, ihre Weigerung zu verschwinden, die auch die Gegenstände und das Unbeseelte kennen, nicht nur die Menschen, die sich festhalten und verzweifeln und fast niemals kapitulieren (›Aber jetzt noch nicht, noch nicht‹, murmeln sie panisch, mit schwindenden Kräften), vielleicht ist es der Versuch aller Dinge, ihre Spur zu hinterlassen, ihre Verleugnung oder ihr Verwischen oder ihr Vergessen zu erschweren, es ist ihre Art zu sagen ›Ich bin gewesen‹ und zu verhindern, daß wir sagen ›Nein, das ist nicht gewesen, niemand hat es gesehen oder erinnert sich daran oder hat es jemals berührt, das gab es nie, das hat nie die Welt durchschritten noch einen Fuß auf die Erde gesetzt, es hat nicht existiert und ist nie geschehen.‹
    Es war kein einschneidendes Ereignis, sondern etwas Leichtes für diese Zeiten und auch etwas Vergnügliches, was in jener weit fortgeschrittenen Nacht zwischen der jungen Pérez Nuix und mir geschah, ohne zu geschehen, vielleicht zu der Stunde, die die Römer Conticinium nannten und die in Wirklichkeit in unseren Städten nicht mehr existiert, denn es gibt in ihnen keine Stunde, in der alles ruhig und still ist. Sie atmete zufrieden oder erleichtert auf und bedankte sich für mein Versprechen, das keines war, das heißt für meine Ankündigung, daß ich versuchen würde, es zu machen. Das war keine große Verpflichtung. Plötzlich wirkte sie sehr müde, aber das dauerte nur einen Augenblick, gleich darauf stand sie energisch auf, ging zum Fenster und sah sich aus größerer Nähe den Regen an, der nicht ermüdet. Sie streckte sich diskret – nur die Fäuste, nicht die Arme; und die Oberschenkel, ohne sich auf die Fußspitzen oder die Fersen zu stellen –, und dann bat sie mich, bleiben zu dürfen. Ihr sei das zu beschwerlich, jetzt noch zu gehen, so spät, sagte sie, keine Sorge, sie würde sehr früh aufstehen, um den Hund auszuführen, rechtzeitig aufbrechen, um bei sich zu Hause noch duschen und sich umziehen zu können (›Und um sich neue Strümpfe anzuziehen‹, dachte ich gleich), und wir würden nicht gemeinsam zum namenlosen Gebäude gehen müssen, wie seltsame Eheleute, die sich nicht trennen, wenn sie sich auf den Weg zur Arbeit machen. Niemand dort würde auf die Idee kommen, daß wir uns außerhalb getroffen hatten, um zu konspirieren, oder daß wir uns erst so kurz zuvor verabschiedet hatten. Ich willigte ein, wie konnte ich mich einer solchen Lappalie verweigern, nachdem ich das Wesentliche zugesagt hatte (na ja, den Versuch), auch wenn das zwei verschiedene Dinge waren; es war eine zu unwirtliche Nacht, um noch einmal auf die Straße zu gehen, und wer weiß, wie lange es gedauert hätte, bis ein Taxi kam, man hätte ihr eines rufen müssen, wenn überhaupt jemand dranging. Mir war es auch aus einem Gefühl für den Ablauf heraus lieber, daß sie nicht gleich ging, nachdem sie bekommen hatte, was sie wollte (oder dessen Ankündigung), das hätte den Besuch rein nutzenorientiert erscheinen lassen. Das stimmte zwar, und wir beide wußten es, aber es konnte uns nicht daran gelegen sein, es hervorzuheben, und es war auch im Hinblick auf das nicht günstig, was uns in den nächsten Tagen zu tun blieb, vor allem mir, der ich Incompara deuten und vielleicht sehen sollte. Ich bot ihr an, auf dem Sofa zu schlafen und ihr das Bett zu überlassen; sie war nicht einverstanden, sie sei der Eindringling und diejenige, die unerwartet aufgekreuzt sei, sie wolle mich nicht meiner Matratze und meiner Laken

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