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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Klagen hinter uns gelassen haben, daß wir nicht ein Kind weggestoßen oder niedergetrampelt haben, um uns Platz in dem Rettungsboot zu schaffen, als das Schiff unterging, daß wir uns im schlimmsten Augenblick nicht hinter einem anderen verschanzt haben, damit die Schläge oder die Messerstiche oder die Kugeln diesen anderen an unserer Seite träfen, der vielleicht unseren Schutz erwartet hat: vielleicht den Menschen, den wir am meisten liebten, für den wir ohne zu zögern unser Leben geben würden, wie wir tausendmal verkündet haben, und dann stellt sich heraus, daß wir doch zögern und es nicht geben und es nicht gegeben haben und es auch nicht geben würden, wenn sich uns eine zweite Gelegenheit böte; daß wir niemandem unsere Schuld aufgeladen und keine falsche Anklage erhoben haben, um uns zu retten, und niemals mit schrecklichem Egoismus und aus schrecklicher Angst gehandelt haben. Wir glauben bereitwillig, daß wir nicht dann und dort geboren seien, wo wir zur Welt kamen, daß wir jünger seien und von einem anderen, edleren oder weniger zweifelhaften Ort kämen, daß unsere Eltern nicht die seien, die sie waren, noch so einen gewöhnlichen Namen hätten; daß wir aus eigenem Verdienst erreicht hätten, was wir gestohlen haben oder was man uns geschenkt hat, daß wir jedes Zepter oder jeden Thron oder bloßen Stab oder bloßen Stuhl rechtmäßig geerbt hätten, ohne zu unwürdigen Mitteln zu greifen oder sie zu usurpieren, daß wir Einfälle und Ideen selbst gehabt und nicht bei anderen, klügeren oder nachdenklicheren Menschen gelesen oder gehört hätten, deren gefürchtete Namen wir immer verschweigen und die wir hassen, weil sie uns zuvorgekommen sind, obwohl wir in einem seltsamen, heilen Winkel unseres Bewußtseins wissen, daß es dieses Zuvorkommen nicht gibt und daß diese so eigenen Ideen ohne ihr Vorangehen noch weniger die unseren wären oder es gar nicht sein könnten; wir halten uns für denjenigen, den wir am meisten bewundern, und versuchen, ihn zu vernichten, damit dies in Erfüllung geht, wir glauben, ihn vollkommen ersetzen und ihn mit unseren Erfolgen vergessen machen zu können, die wir ganz und gar ihm verdanken, und ihn aus dem unbeständigen Gedächtnis der Welt vertreiben zu können, und wir beruhigen uns, indem wir uns sagen, daß er nur ein Pionier war, den wir längst überwunden haben und der in uns aufgegangen ist, und so machen wir ihn entbehrlich; wir sind überzeugt, daß die Vergangenheit nicht auf uns lastet, weil wir sie nie durchmessen haben (›Ich war es nicht, es ist mir nicht passiert, ich habe es nicht erlebt, ich habe nichts gesehen, ich bin es nicht gewesen, es ist eine Einbildung, eine fremde Erinnerung, die merkwürdigerweise auf mich verpflanzt wurde oder mich angesteckt hat‹), und daß wir nie gesagt, was wir sehr wohl gesagt haben, oder das gestohlen, was wir sehr wohl gestohlen haben, daß wir nie dem Diktator zugejubelt oder unseren besten Freund verraten haben, der vom ersten bis zum letzten Tag in so unerträglicher Weise besser war (›Er hat es sich selbst zuzuschreiben, ich hatte nichts damit zu tun, ich habe geschwiegen, er war leichtsinnig, er hat sein Schicksal besiegelt, er hat sich hervorgetan, wo es nicht angebracht war, und nicht rechtzeitig das Lager gewechselt, er wollte nicht einmal überlaufen‹); und sogar, daß wir nicht unseren richtigen Namen tragen, sondern den falschen oder diejenigen, die aufeinanderfolgen oder hinzukommen und sich ändern, ob Rylands oder Wheeler, oder Ure oder Reresby oder Tupra oder Dundas, oder Jacques der Fatalist oder Jacobo oder Jaime.
    Die Leute glauben, was sie glauben wollen, und deshalb ist es so naheliegend und leicht, daß alles seine Zeit hat, um geglaubt zu werden. Ohne Diskussion: selbst das offensichtlich Falsche und das Gegenteil dessen, was wir sehen, auch das wird geglaubt in der Zeit seiner Leichtgläubigkeit, jedes Ereignis in der seinen und alle in der vergangenen. Jeder ist bereit, den Blick abzuwenden und sich ablenken zu lassen, zu leugnen, was er vor Augen hat, nichts von dem zu hören, was geschrien wird, und zu behaupten, es gebe gar kein Geschrei, sondern eine gewaltige, friedliche Stille; zu verändern, was immer nötig ist, an den Tatsachen und am Geschehen – der Lahme ist bereit, sein Bein zu spüren, und der Einarmige seinen Arm und der Geköpfte, drei Schritte zu machen, als hätte er den Willen oder das Bewußtsein noch nicht verloren –, aber vor allem an seinem Denken, an

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