Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
kurzärmeliges T-Shirt geliehen, denn die ziehe ich immer zum Schlafen an, wenn ich Kälte vorhersehe, eigentliche Schlafanzüge habe ich nicht. ›Das reicht, danke‹, hatte sie gesagt, also war es am wahrscheinlichsten, daß sie nur das trug und die Beine unbedeckt gelassen hatte, obwohl auch fast sicher war, daß sie aus Scham oder aus Rücksicht oder aus Reinlichkeit den Slip anbehalten hatte, um nicht ein fremdes Laken zu beschmutzen, so wie ich meine Unterhose anbehielt, es waren Shorts, und mir ebenfalls ein T-Shirt anzog, nicht so sehr, weil ich in jener Nacht gefroren hätte, als um ihr irgendeine zufällige Berührung zu ersparen, Haut auf Haut, Fleisch auf Fleisch, dazu würde es nur auf Höhe unserer Beine kommen können, die meinen behaart, die ihren schön glatt, was die sorgfältige Depilation anging, war sie ganz Spanierin. Doch bevor ich das Licht löschte, das sie hatte brennen lassen, damit ich nicht blindlings hereintappen mußte – die Nachttischlampe –, gab ich vor, ein wenig Ordnung in ihre und meine Kleidung zu bringen, die wir beide auf denselben Sessel gelegt hatten, und dabei konnte ich die Kleidungsstücke sehen und zählen, die sie ausgezogen hatte, und ich sah nicht nur den Büstenhalter, wie ich vermutet hatte, sondern auch die übrige Wäsche, wie ich überhaupt nicht vermutet hatte, da war ihr weißer, zusammengelegter Slip, nur eine Falte, er war winzig, das heißt normal, und ich dachte sogleich: ›Das T-Shirt wird lang genug sein, ich bin ja größer als sie, es wird ihr genügen, um sich bedeckt zu fühlen.‹ Aber dieser Gedanke nützte mir nichts, und in dem Augenblick, da das Zimmer im Dunkeln lag und ich unter die Laken schlüpfte, wurde mir klar, daß ich die ganze Nacht diese seltsame und unerwartete Tatsache nicht würde vergessen können und daß es mir fast unmöglich sein würde, so einzuschlafen, weil sie mir im Kopf herumgehen und ich über ihre Bedeutung grübeln würde: Was für einen Sinn hatte es, daß sie ihn ausgezogen hatte und daß ihr Geschlecht – gewissermaßen – unbedeckt war, so nahe bei mir und dem meinen, uns trennten nur einige wenige Zentimeter und zwei dünne Stoffe oder nicht einmal das, der meiner Shorts mit zweckmäßiger Öffnung und der ihres geliehenen T-Shirts, wenn es sich nicht hochgeschoben hatte, als sie ins Bett ging, und sie sich nicht darum gekümmert hatte, es herunterzuziehen, es konnte sein, daß jetzt ihr Hintern – sie hatte sich auf die andere Seite gedreht, kehrte mir also den Rücken zu – nackt war und sehr nahe an meinem sich heillos regenden Glied, eine Katastrophe, ich würde kein Auge zutun aufgrund des körperlichen Alarmzustandes und der immer wieder im Kopf umhergehenden Fragen und ständig darüber nachdenken, über das Glied, über den Hintern, über weiter unten, über die Nähe all dieser Dinge und über die nicht vorhandenen Türen oder selbst Stangen und Schnüre, ich würde überlegen, ob ich mich verstohlen nähern und vorsichtig an sie drücken sollte und dabei so tun, als ob es unbewußt geschähe, im Traum, etwas rein Instinktives, Unfreiwilliges, fast Animalisches, in gespannter, wacher Erwartung jedoch, um zu sehen, ob sie sich sogleich entzog, ob sie bei der ersten Berührung zurückwich oder sie ertrug und sich nicht rührte und nicht auswich, nicht wegrückte und mich nicht fallen ließ, in die Luft, in die Leere, ins Nichts; Druck oder Anregung zu erwarten, wagte ich nicht, all das geschah nur im Denken, das unter solchen Umständen sofort obsessiv wird, das ist die Art Zweifel oder Vorstellung, die, wenn sie erst einmal da sind, sich nicht auflösen oder zurückziehen, schon gar nicht, wenn das Blut zusammengeflossen ist und jedes Abflauen oder Atemholen, jede Besänftigung oder Ablenkung oder Erholung verhindert und die Versuchung sich verfestigt. Nachdem ich eine Weile ihre Atmung belauert hatte – sie erschien mir nicht wie die einer Schlafenden – und meinen Atem gezügelt, ja, fast angehalten hatte, kam mir der Gedanke, aufzustehen und mit einer Decke auf das Sofa zu gehen, aber eigentlich wollte ich meinen Platz nicht verlassen und die unwahrscheinliche Nähe nicht verlieren, jetzt, da sie erreicht war, sie war eine Art Verheißung, die bereits als solche Befriedigung verschaffte und mir erlaubte, die quälende und hoffnungsvolle Ungewißheit aufrechtzuerhalten, Phantasien in bezug auf das zu entwickeln, was jeden Augenblick passieren konnte, wenn es zu der Berührung kam und keiner von
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