Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
Teil, weil ich in einigen Augenblicken – eins, zwei, drei, vier; und fünf – das Gesicht abwandte oder die Augen schloß und mir ein- oder zweimal in Höhe der Augenbrauen mit der Hand die Augen abschirmte, die Finger bereit, um sehen oder nicht sehen zu können, was ich bereits sah. Doch ich sah oder ahnte genug von jeder Aufnahme oder Episode, denn Reresby drängte mich außerdem, den Blick nach vorne zu richten (›Nein, dreh dich nicht weg, halt es aus, schau hin, ich spiel dir das nicht vor, damit du wegsiehst, versteck dich nicht‹, befahl er, wenn ich den Anblick auf die eine oder andere Weise floh, ›und sag mir jetzt, ob das, was du vorhin erlebt hast, so schrecklich ist, sag mir, ob ich übertrieben habe, sag mir, ob es auch nur die geringste Bedeutung hat.‹ Und mit ›vorhin‹ bezog er sich auf das, was auf der Behindertentoilette in meiner Anwesenheit und angesichts meiner Ohnmacht oder Passivität und Angst oder meiner schlichten Feigheit geschehen war oder was er hatte geschehen lassen.) Zum Teil schließlich, weil ich nicht wage, es zu erzählen, oder nicht imstande bin, es zu tun, nicht ganz.
Während ich schaute und ahnte und sah, drang ein Gift in mich ein, und wenn ich dieses Wort, ›Gift‹, benutze, dann nicht leichthin und auch nicht rein metaphorisch, sondern weil etwas in mein Wissen einsickerte, das nie zuvor dortgewesen war und bei mir augenblicklich das Gefühl erzeugte, schrittweise zu erkranken, etwas, das meinem Körper und meinem Blick und meinem Bewußtsein fremd war, in Wahrheit eine Inokulation, und diese Vokabel ist etymologisch präzise, denn sie enthält den lateinischen Begriff › oculus ‹, von dem sie abstammt, und auf diesem Weg drang meine unerwartete, neue Krankheit ein, durch die Augen, die Bilder aufnahmen und sie verzeichneten und festhielten und nicht mehr würden löschen können, wie man das Blut vom Boden entfernt, und noch weniger nicht gesehen haben. (Vielleicht würde ich allenfalls, wenn sie geheilt wären, an ihnen zweifeln können: wenn die Zeit vergangen wäre, die einebnet und verwischt und vermischt.) Und so ging in mich ein, wie durch eine langsame Nadel, was mir ganz und gar äußerlich war und völlig unbekannt, was ich weder vorausgesehen noch gedacht noch auch nur geträumt hatte, und es kam alles von so weit draußen, daß es mir nichts nützte, in der Presse über ähnliche Fälle gelesen zu haben, die dort immer fern und übertrieben wirken, und auch nicht in Romanen, oder sie im Kino gesehen zu haben, von dem wir nie alles glauben, weil wir im Grunde wissen, daß es fingiert ist, so sehr wir auch mit den Protagonisten mitleiden oder uns mit ihnen identifizieren. Die ersten Szenen, die Tupra mir auf dem Bildschirm zeigte, hatten jedoch ein trügerisches Moment relativer Komik, weshalb es mich noch keine Mühe kostete, zu scherzen und ihn darüber zu befragen (hätte er mit den danach folgenden begonnen, wäre ich sicher von Anfang an verstummt):
»Was ist das? Ein Porno?«
Und das war, als hätte ich Reresby die Erlaubnis gegeben, mich so weit er wollte – immer wenig, knapp – über diese erste Aufnahme aufzuklären und auch über die anderen oder die meisten, denn über zwei oder drei bewahrte er ein seltsames, absolutes Schweigen – oder vielleicht ein bedeutsames –, so als gäbe es nichts über sie zu sagen.
»Nicht in der Intention. Auch nicht in den Ergebnissen«, antwortete er sehr kühl, mein Kommentar hatte ihm nicht gefallen. »Diese Frau ist eine Parteigröße der Konservativen, ihres reaktionärsten Flügels, nach heutigem Stand mit hohen Aufstiegschancen als beruhigendes Gegengewicht für die rigidesten Wähler; und da sie flammende Reden gegen den Verfall der Moral und der Sitten und gegen zügellosen Sex und all das zu halten pflegt, ist es interessant zu sehen, was sie auf diesem Video treibt, es könnte eines Tages nützlich sein, es ihr vorzuspielen. Ihr Ehemann ist da nicht dabei.«
Der Szene ging keine Einleitung voraus, ich meine, sie war wahrscheinlich nur auf das Wesentliche oder den Kern hin gedreht, was ich ziemlich bedauerte, denn ich hätte gern gewußt, woher die beiden Gespielen stammten und womit man sie gelockt hatte oder wie sie dazu gekommen waren, die – eine Episode in medias res, ich sage es noch einmal –, bereits dabei waren, ein Sandwich mit ihr zu praktizieren, alle drei miteinander verschlungen auf einem grünen, leicht verblichenen Teppichboden, oder vielleicht war die mittelmäßige
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