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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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unterrichtet hatte, eine tiefe Unkenntnis meiner Sprache, was im übrigen nicht besonders schwerwiegend war, da es fast allen meinen Landsleuten ebenso ergeht und sie sich davon nicht beirren lassen. Mir kam der Gedanke, daß bisweilen sein Kopf ein wenig aussetzte, ähnlich wie sein Sprechen. Nicht genau so, sein Kopf blieb nicht etwa leer, ganz und gar nicht, er redete auch nicht wirr oder geriet durcheinander, sondern er schweifte ein wenig weiter ab als sonst und hörte nicht mehr so konzentriert und aufmerksam zu, wie er es immer getan hatte, als würde ihn das Äußere weniger interessieren und das Innere mehr Raum beanspruchen, seine Abhandlungen, seine Grübeleien, sein insistierendes Denken, wie es bei alten Menschen zu sein pflegt, vielleicht seine Erinnerungen, obwohl er nicht sehr geneigt war, sie zu erzählen oder zu teilen, vielleicht aber sie im Geist Revue passieren zu lassen, sie zu ordnen, sie vor sich zu entfalten und sie sich zu erklären und abzuwägen oder sie womöglich nur schön gerade auszurichten und zu betrachten, wie jemand, der ein paar Schritte zurücktritt und seine Bibliothek oder seine Bilder oder seine aufgereihten Bleisoldaten betrachtet, wenn er sie sammelt, was sich eben angehäuft und seinen Platz gefunden hat im Lauf eines ganzen Lebens, sicher ohne einen anderen Grund als diesen – und der findet sich: zurückzutreten und sie zu betrachten.
    Diese Art geschwätzige Geistesabwesenheit, die ich am Telefon bei ihm bemerkte, ließ mich manchmal fürchten, mir könnte nicht mehr viel Zeit bleiben, ihn zu fragen, was ich ihn schon immer fragen wollte und ständig aufschob: aus Diskretion, aus Respekt, aus meiner Abneigung, die Leute auszufragen oder sie dessen zu berauben, was sie nicht preisgeben oder für sich behalten, zu neugierig oder gar unverschämt zu erscheinen, aus meiner natürlichen Neigung abzuwarten, daß man mir nur das sagt, was man mir wirklich sagen will, und nicht das, was man aufgrund des Gesprächsfadens oder seiner Verknotungen oder des Lobes oder des Drangs zu erzählen versucht ist – die Versuchung zu erzählen ist ebenso stark wie vorübergehend und verschwindet leicht, sobald man ihr widerstanden oder ihr nachgegeben hat, nur daß es im letzteren Fall keine Abhilfe mehr gibt, sondern nur Reue oder, wie die Italiener sagen, ›rimpianto‹ , inneres, grüblerisches Klagen. Und es stimmte, daß ich ihn einiges fragen wollte, bevor es sehr schwierig oder unmöglich wurde, ich wollte von seinen Erlebnissen im Bürgerkrieg erfahren, der meine Eltern so geprägt hatte, mochten jene auch anekdotisch und kurz und mir bis vor kurzem unbekannt gewesen sein; von seinen Abenteuern beim MI 6 , von seinen Sonderaufträgen in der Karibik, in Westafrika und in Südostasien zwischen 1942 und 1946 , wie es im Who’s Who hieß, in Havanna und in Kingston und an anderen unbekannten Orten, auch wenn es ihm nach sechzig Jahren noch immer verboten war, sie zu enthüllen, und ganz gewiß nach denen, die ihm noch zu leben blieben, er würde die Erzählung mit ins Grab nehmen, wenn ich sie ihm nicht entlockte, der Temporary Lieutenant-Colonel Peter Wheeler, geboren als Rylands an den Antipoden: von seinem verschwiegenen Verhältnis zu seinem Bruder Toby, den ich als ersten kennengelernt und bewundert und beweint hatte, ohne die geringste Ahnung von der Verwandtschaft zu haben; auch von seiner Arbeit mit der Gruppe, für die es bei ihrer Gründung keinen Namen gab, so wie es ihn jetzt auch nicht geben durfte, weder ›Menschendeuter‹ noch ›Lebensübersetzer‹ noch ›Geschichtenantizipierer‹, er hatte Tupra kritisiert, weil er diese Begriffe im privaten Kreis benutzt hatte: ›Rufnamen, Beinamen, Spitznamen, Pseudonyme und Euphemismen werden bekannt und bleiben, ohne daß man es merkt‹, hatte er gesagt, ›am Ende bezieht man sich auf die Dinge oder die Menschen in stets gleicher Weise, und das wird leicht zu einem Namen. Und dann kann ihn keiner mehr aus der Welt schaffen und keiner mehr vergessen.‹ Und so war es, ich würde sie nicht mehr vergessen können, weil ich Teil dieser Gruppe war und diese Bezeichnungen gehört hatte, oder ihrer einem gewissen Verfall ausgesetzten gegenwärtigen Erben; und ich wollte auch vom Tod seiner so jungen Frau Val oder Valerie erfahren, obwohl er es vorzog, das immer auf einen anderen Tag zu verschieben, und außerdem dachte, daß man im Grunde niemals etwas erzählen sollte.
    Mir schien sogar – es war nicht so sehr eine

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