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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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Feststellung als eine Vermutung –, daß Wheeler womöglich den Griff lockerte, mit dem er früher fest zugepackt und die Beute nicht losgelassen hatte, wie Tupra und ich und die junge Pérez Nuix es wahrscheinlich nach wie vor taten, alle drei noch in einem ruhelosen oder zumindest tatfreudigen Alter, wie lange dauern sie wirklich, die drangvollen Jahre, die Jahre der Unruhe und des beschleunigten Pulses, der Bewegung und des Überschlags, des Schwindels, die Jahre jener und so vieler Schritte, vieler Zweifel und so einer Qual, in denen man ringt und intrigiert und kämpft und danach strebt, dem anderen Kratzer beizubringen und sie an sich selbst zu vermeiden und die Dinge zum eigenen Vorteil zurechtzubiegen, wiewohl dieser sich oft so kunstvoll als edler Zweck maskiert, daß er sogar uns selbst täuscht, die wir die Masken hergestellt haben. Ich meine, daß Wheeler sich von seinen Manipulationen und von dem, was er sich zurechtgelegt hatte, entfernte, oder diesen Eindruck machte er auf mich, als hätten sein Wille und seine Entschlußkraft schließlich nachgelassen oder als verachtete er sie vielleicht plötzlich und sähe darin weder Entschädigung noch Verdienst nach Jahrzehnten, in denen er sie gestärkt und kultiviert und genährt und natürlich angewandt hatte. Er war auf sich selbst konzentriert, wenig mehr interessierte ihn. Er war über neunzig, es war nicht verwunderlich, noch konnte man es ihm vorwerfen, es war längst Zeit.
    Aber trotz dieser Warnzeichen, trotz meiner wachsenden Furcht, nicht die Zeit zu haben, die ich mit ihm immer als unbegrenzt empfunden hatte, schob ich meine Besuche und meine Fragen auf und ging nicht zu ihm. Ich hätte mir von ihm auch gern mehr über Tupra erzählen lassen, von seiner Vorgeschichte, seinem Werdegang, seiner Gefährlichkeit, von seinem Charakter, von den ›Möglichkeiten in seinem Blut‹ – er wußte wohl mehr davon, er kannte ihn länger –, vor allem nach jener Nacht des Schwertes und der Videos, deren Erinnerung mich wochenlang gequält hatte und dies endlos weiter tun würde; doch in dieser Angelegenheit, da ich nun einmal beschlossen hatte, mich nicht davonzumachen oder zu entziehen, meinen Posten und damit meine Tätigkeit, mein Gehalt und meine Betäubung noch nicht aufzugeben, scheute ich vielleicht vor der Möglichkeit zurück, wirklich etwas herauszufinden, und mich – wenn Wheeler mir den Gefallen tat und Tupra ganz und gar entzifferte – womöglich veranlaßt zu sehen, etwas aufzugeben, dessen Fortsetzung ich im Augenblick, nicht ohne Widerwillen, beschlossen hatte. Mir wurde bewußt, daß ich an einem Punkt angelangt war, an dem es mir mit jedem Tag, der verging, schwerer fiel, umzukehren oder gar alles hinter mir zu lassen und nach Madrid zurückzukehren – um wo zu arbeiten, um wie zu leben, um Luisa nahe zu sein, während sie sich von mir entfernte –, wobei ich die Stadt auch nicht ganz verlassen hatte. Mein Geist war größtenteils dort, nicht aber mein Körper, dieser gewöhnte sich allmählich daran, durch London zu streifen und beim Aufwachen und Einschlafen dessen Gerüche zu atmen (immer mit einem offenen Auge, der fehlenden Jalousien wegen, oder als ganz gewöhnlicher Bewohner der großen Insel), einen Teil des Tages mit Tupra und Pérez Nuix und Mulryan und Rendel und gelegentlich mit Jane Treves oder Branshaw zu verbringen, gewöhnte sich an bestimmte, anfänglich rettende Routinen, in denen man sich, ohne es vorausgesehen zu haben, plötzlich wie in einem Spinnennetz gefangen fühlt, ohne daß man sich ein anderes Leben vorstellen könnte als das, was man führt, obwohl es nichts Besonderes ist und sich gleichsam zufällig ergeben hat und ohne daß jemand es gerufen hätte. Nein, es fiel mir nicht mehr leicht, mich in einer anderen, weniger bequemen und schlechter bezahlten, weniger attraktiven und abwechslungsreichen Arbeit zu sehen, schließlich stand ich jeden Morgen neuen Gesichtern gegenüber oder vertiefte mich weiter in die bekannten, es war eine Herausforderung, sie zu entschlüsseln. Auf ihre Möglichkeiten zu setzen, ihr Verhalten vorauszusehen, es war fast, als würde man Romane schreiben oder zumindest Porträts. Und ab und zu gab es Ausflüge, Übersetzungen vor Ort und ein paar Reisen.
    Und so schob ich auch meine Rückkehr nach Madrid auf, ich meine, einen Besuch bei meinen Kindern und meinem Vater und meinen Brüdern und Freunden, es waren zu viele Monate vergangen, ohne daß ich einen Fuß in meine Stadt gesetzt

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