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Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied

Titel: Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marias
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vor, natürlich in seiner Sprache, in der Tupras und in der jener Verse: ›The belching winter wind, the missile rain, the rare and welcome silence of the snows, the laggard morn, the haggard day, the night …‹
    »Glaubst du, daß es immer so ist, Bertram?« fragte ich ihn, er saß mir gegenüber in Fahrtrichtung, ich in der Gegenrichtung. »Du, der du etwas vom Tod verstehst«, fügte ich leicht boshaft hinzu, »glaubst du, daß wir am Ende alle an unseren Ursprungsort zurückkehren, so bescheiden oder deprimierend oder trüb er war, so sehr sich unser Leben auch gewandelt hat und unsere Gefühle sich verändert haben und wir auf dem Weg unvorstellbare Reichtümer und Erfolge erlangt haben? Glaubst du, daß man am Ende doch immer wieder auf seine Armut schaut oder auf sein heruntergekommenes Stadtviertel oder die kleine Provinzstadt oder das trübselige Dorf, von dem aus man sich der übrigen Welt zuwandte und aus dem ein Entkommen jahrelang unmöglich schien, und daß man dann das alles vermißt? Man sagt, daß die ganz Alten sich vor allem an ihre Kindheit erinnern und sich geistig fast in ihr einkapseln und daß sie das Gefühl haben, alles, was unterdessen geschehen ist, zwischen jener fernen Zeit und ihrem gegenwärtigen Verfall, ihren Begehrlichkeiten und Leidenschaften, ihren Kämpfen und ihren Niederlagen, sei falsch gewesen, eine Anhäufung von Zerstreuungen und Irrtümern und gewaltigen Anstrengungen um Dinge, die in Wirklichkeit nicht wichtig waren; und sie fragen sich, ob nicht alles ein endloser Umweg gewesen sei, eine nutzlose Reise, um zum Wesentlichen, zum Ursprung, zum einzigen zurückzukehren, was wirklich zählt …, wenn es nichts mehr zu zählen gibt.« Und ich dachte: ›Warum gingen sie aufeinander los und wozu diese ganze Anstrengung, warum führten sie Krieg, statt zu schauen und ruhig zu verharren, warum verstanden sie es nicht, sich zu sehen oder sich weiter zu sehen, und wozu soviel Traum und dieser Stich, mein Schmerz, mein Wort, dein Fieber und so zahlreich die Zweifel und so eine Qual.‹ »Du wirst viel davon wissen, du wirst beim Tod vieler dabeigewesen sein. Und du siehst ja, wie es Stevenson erging: Er bereiste die halbe Welt, und am Ende dachte er in Polynesien nur an seinen Geburtsort. Hör zu, wie das andere anfängt: ›Die Tropen verschwimmen, und mir scheint, als schaute ich in Träumen abermals vom Halkerside oder, höher, vom Allermuir oder vom steil abfallenden Caerketton herab …«
    »Das sind Berge in der Nähe von Edinburgh«, unterbrach Tupra mich, als wäre es eine Fußnote, und dann schwieg er. Ich erwartete, daß er auf meine Fragen antwortete, daß er noch etwas hinzufügte. Ich hatte ihm die Verse nicht nur aus Lust und Laune vorgelesen und um die Fahrtzeit abzukürzen. Und wenn ich ihm gegenüber heruntergekommene Stadtviertel und Provinzstädte erwähnt hatte, dann weil ich darauf hoffte, daß er sich vielleicht angesprochen fühlte und an Bethnal Green dachte, wenn er denn von dort stammte, oder zum Beispiel an den Uhrmacher in Bath, wenn er denn einen Teil seiner Kindheit mit ihm verbracht hatte, und daß er mir ein wenig davon erzählte. Aber Tupra antwortete einzig auf das, worauf er antworten wollte, das wußte ich nur zu gut. »Stevenson ging hauptsächlich seiner Gesundheit wegen nach Samoa, wenn ich mich recht erinnere«, sagte er nach ein paar Sekunden, »nicht aus Abenteuerlust. Und außerdem war er nicht alt. Er starb mit vierundvierzig Jahren.«
    »Das ist egal«, antwortete ich. »Als er diese Gedichte schrieb, spürte er wahrscheinlich, daß sein Ende nahe war, und erinnerte sich einfach mit ungeheurer Sehnsucht an den trostlosen Ort seiner Kindheit. Hör doch nur, was er in diesen Versen sagt: ›… und wenn die Stimme der Liebe bedeutungslos an meine Ohren dringt, die sich verschließen werden …‹. Siehst du, nicht einmal die Nähe seiner Frau zählt für ihn, oder er sieht voraus, daß sie für ihn in seinem letzten Bewußtsein der Welt, in seinen letzten Augenblicken nicht zählen wird, sondern nur die kurzen Visionen der Vergangenheit, die ›funkeln und verlöschen und vergehen …‹ Und schau mal, mit welcher Klarheit er endet: ›An sie werde ich mich erinnern, und dann werde ich alles vergessen‹, das sagt er.«
    Tupra war einen Augenblick lang nachdenklich. Niemand widersteht einer Textanalyse, das weiß ich aus Erfahrung.
    »Wie kann das sein. Hm? Wiederhol mal das mit der bedeutungslosen Liebe.«
    Und ich wiederholte es

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