Dein Gesicht morgen 03 - Gift und Schatten und Abschied
ihm:
»›Yet when the voice of love shall fall insignificant on my closing ears …‹«
»Unsinn«, unterbrach mich Tupra. ›Nonsense‹, lautete das Wort in seiner Sprache. »Das war nicht das Beste, was Stevenson geschrieben hat. Ein großer Dichter war er ja nicht.« Er schwieg wieder, als wollte er sein Urteil unterstreichen, und dann fügte er zu meiner Überraschung hinzu: »Aber lies mir mehr vor, komm.«
Fast alle haben es gern, wenn man ihnen vorliest. Und ich begann wieder:
»›In der Ferne gelegen, zwischen Feldern und Wäldern, sehe ich die Stadt prachtvoll aus ihren Dunstschwaden herausragen, felsig, mit Türmen und Uhrzeigern, ihre jungfräuliche, fahnenbewehrte Festung …‹« Und während ich fortfuhr, blickte ich Tupra verstohlen an und sah ihn zufrieden, obwohl ihm Stevensons Gedichte nicht gefielen. »›Dort, auf der sonnenbeschienenen Fläche eines Hügels, neben dem Haus der Könige, ruhen die Toten, meine Toten, bereit und wortgewandt. Ihre Werke, von Salz verkrustet, dauern noch immer fort; das Meer stürmt gegen die Türme, die sie errichteten; die Nacht erbebt, durchschnitten von ihren heftigen Lichtern. Die Erbauer, hier, in dieser vergitterten Zelle, wo der Regen auslöscht und der Rost zerfrißt, versanken im ewigen Schweigen …‹«
Und wer wußte schon, ob ihm seit der Kindheit noch jemand vorgelesen hatte.
H ier, in Edinburgh, am Firth of Forth und am Fife, verlangte er meine Dienste nur einen Abend, für ein weiteres Abendessen- cum -Berühmtheiten oder - cum -Vogelscheuchen, das auch ein Abendessen- cum -Dick Dearlove war, dem planetarischen Sänger, den ich so genannt habe. Zum Glück zwang Tupra mich nicht, dem Konzert beizuwohnen, das dieser zuvor im Rahmen des Festivals gab, allerdings schon, gegenüber allen vorzugeben, daß ich es vom ersten bis zum letzten Akkord mit unbeschreiblicher Begeisterung goutiert hätte: ›Denk daran, die sagenhafte Interpretation von Peanuts from Heaven und die wundersame von Bouncing Bowels zu erwähnen, diese beiden spielt er immer in heterodoxen Versionen, sie klingen jedes Mal anders, obwohl sie schon zu seinen Klassikern gehören‹, riet er mir, falls irgend jemand oder Dearlove höchstpersönlich mich danach fragte, in dessen Nähe er mich zu plazieren wußte. ›Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, unter dem Vorwand, die beiden Landsleute von dir zu unterhalten, die er jetzt oft in seinem Gefolge mitführt, selbst auf die Gefahr hin, zudringlich und lästig zu wirken, das Schlimmste, was passieren kann, ist, daß er dich nicht beachtet oder sich woanders hinsetzt, um dir aus dem Weg zu gehen. Sprich über seinen Riesenerfolg in Spanien mit ihm, und nicht nur im Baskenland, bei allem, was dir lieb ist: Das könnte ihn beleidigen, obwohl es stimmt, es wäre ihm zu örtlich begrenzt. Erreg seine Aufmerksamkeit, sei ihm angenehm, provoziere ihn zu Vertraulichkeiten, entlocke ihm, was du kannst, über seinen angeblichen sexuellen Symbolismus, wo immer er ist, er glaubt es, überall. Er soll sich geschmeichelt fühlen, zum Prahlen ermutigt, erfinde Spanier, von denen du weißt, daß sie nach ihm lechzen und egal was tun würden, um Hand an sein Gemächt zu legen, Bekannte von dir, echte Menschen, deren Vorstellung ihn heiß macht, junge Leute, deine eigenen Kinder, wie alt sind sie? Nein, sie sind zu klein, dann eben Nichten und Neffen von dir, egal was, sondiere ihn, mal sehen, was er dir erzählt, nach den Auftritten ist er erschöpft und euphorisch zugleich, seine Zunge löst sich, und er ist nicht so auf der Hut, durch die Erregung und den Applaus und durch das, was er vorher genommen hat, um die Enthemmung zu ertragen, ich weiß nicht, wieso er nicht explodiert ist nach all den Jahren, in denen er sich diesen hochkonzentrierten Ruhmesorgien unterwirft. Mich kennt er zu gut, aber bei einem Unbekannten, den er nicht wiedersehen wird (ich glaube nicht, daß er sich vom letzten Mal an dich erinnert), bei jemandem wie dir läßt er sich womöglich sehr viel mehr aus als bei mir oder bei jedem anderen Engländer, er wird sich befreiter fühlen, und vor Novizen geben Diven besonders gerne an, sie müssen auch ihr Publikum mit Menschen erneuern, die sich noch beeindrucken lassen. Hoffentlich erzählt er dir irgendein Abenteuer, irgendeinen aufsehenerregenden sexuellen Triumph, irgendeine Heldentat, verfolg du nur diese Richtung, auch wenn es dir unverschämt vorkommt, ich sag dir ja, das Schlimmste, was dir passieren kann, ist,
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