Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
einer Fliege sie ablenkt, man erträgt nicht das stete Nachspüren oder die Hartnäckigkeit, das wirkliche Beharren auf etwas, um diesem Etwas auf den Grund zu gehen. Und man erlaubt nicht den langen Blick, wie Tupra ihn hatte, den Blick, der am Ende das in dieser Weise Angeschaute verwandelt. Augen, die verweilen, sind heute beleidigend, und deshalb müssen sie sich hinter Vorhängen und Ferngläsern und Teleobjektiven und fernen Kameras verstecken und von ihren tausend Bildschirmen aus spionieren.
In einer Hinsicht – aber nur in einer – erinnerte Tupra mich an meinen Vater, der uns nie erlaubte, weder meinen Geschwistern noch mir, uns bei unseren Debatten mit dem Schein eines dialektischen Sieges oder einer gelungenen Erklärung zufriedenzugeben. »Und was noch«, sagte er, nachdem wir erschöpft einen Gedankengang oder eine Argumentation abgeschlossen hatten. Und wenn wir ihm antworteten: »Nichts weiter. Das wär’s. Ist dir das zuwenig?«, antwortete er und brachte uns damit kurz aus der Fassung: »Ja, du hast erst angefangen. Mach weiter. Auf, los, rasch, denk weiter. Eine einzige Sache zu denken oder zu erkennen, ist schon etwas, aber es ist auch so gut wie nichts, wenn man sie erst einmal verarbeitet hat: Man ist zum Elementaren vorgedrungen, bis wohin die meisten freilich gar nicht gelangen, aber interessant und schwierig, möglicherweise lohnend und ungleich mühseliger ist es, weiterzumachen, weiterzudenken und über das Notwendige hinaus zu sehen, wenn man das Gefühl hat, daß es nichts mehr zu denken und nichts mehr zu sehen gibt, daß der Gedankengang vollständig ist und weitermachen verlorene Zeit. Das Wichtige ist immer da, in der verlorenen Zeit, im Grundlosen und scheinbar Überflüssigen, jenseits der Grenzlinie, innerhalb derer man sich zufrieden fühlt oder erschöpft und kapituliert, oft, ohne es sich einzugestehen. Dort, wo man glauben könnte, daß es nichts mehr geben kann. Also sag mir, was noch, was fällt dir noch ein und was folgerst du noch, was bietest du noch an und was hast du noch. Denk weiter, rasch, hör nicht auf, los, mach weiter.«
Auch Tupra richtete sich dort ein, im Verweisen auf die Unzulänglichkeit, er hatte es schon beim ersten Mal im Fall des Soldaten Bonanza getan mit seinen »Was noch«, »Erklären Sie mir das«, »Sagen Sie mir, was Sie denken«, »Warum glauben Sie das«, »Sprechen Sie weiter«, »Sagen Sie mir etwas über diese Einzelheiten«, »Noch etwas?«, »Ist das alles, was Sie beobachtet haben?«. Es war eine sanfte, dosierte Hartnäckigkeit, mit der er jedoch aus einem herausholte, was man gedacht und gesehen hatte, sogar den Traum oder den Schatten der Gedanken und der Bilder, das noch nicht Formulierte und Konturierte und daher nicht ganz Gedachte und Gesehene, sondern nur Skizzierte oder Erahnte oder Implizite, das noch Unkenntliche und Phantasmagorische, wie die Skulptur, die der Marmorblock in sich schließt, oder die Gedichte, die fast ganz in den Grammatiken und den Wörterbüchern enthalten sind. Es gelang ihm, dem Illusorischen zu Wort und Gestalt zu verhelfen. Es zur Form zu bringen. Bisweilen empfand ich es wie einen Glaubensakt von seiner Seite: Glaube an meine Fähigkeiten, an meinen Scharfsinn, an meine vermeintliche Gabe, als wäre er sicher, daß ich angesichts seiner höflichen Beharrlichkeit – geleitet von ihr, unterwiesen von ihr – am Ende immer die Zeichnung oder den Text übergeben, das erbetene oder von ihm benötigte Porträt liefern würde.
Ja, etwas Ähnliches mußte es sein, wenn der Bericht über mich selbst, den ich einmal sah, echt war, und es gab keinen Grund dafür, daß er es nicht war. Ich fand ihn eines Morgens, als ich ein paar Angaben in einer alten Kartei suchte. Was nicht für alle Augen bestimmt war, mußte dort verwahrt und archiviert werden und nicht in den so unsicheren, ungeschützten Computern. Ich sah meinen Namen, › Deza, Jacques ‹, und zog den Eintrag heraus, ohne es mir zweimal zu überlegen. Er trug ein Datum, das zwei Monate vor meiner ersten Beteiligung lag (als solche sah ich sie zumindest), der Übersetzung des Rekruten Bonanza und der späteren Befragung über meine Eindrücke von der Person, und enthielt in Wirklichkeit keinen regelrechten Bericht, sondern ein paar rasch hingeworfene, möglicherweise handschriftliche Notizen – womöglich von Tupra selbst – im Zusammenhang mit wer weiß welchen Tätigkeiten oder Interpretationen von mir, obwohl jemand, wer auch immer, sie
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