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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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Schilderungen, mit meinem herkömmlichen Curriculum (oder womöglich mit dem uneingestehbaren) und mit weniger ätherischen und unüberprüfbaren Beobachtungen und Beschreibungen. Sie mußten von uns allen existieren, das Gegenteil wäre unlogisch gewesen, ich nahm mir vor, sie eines Tages in aller Ruhe zu suchen, die über Rendel und die junge Nuix konnten mich interessieren, der über Mulryan nicht sonderlich; und natürlich der über Tupra, wenn es ihn ebenfalls gab. Bevor ich die Kartei schloß, legte ich den Daumen auf den oberen Rand der Karten und ließ einige darunter durchlaufen, nicht sehr schnell, aus Neugier, und hielt sie aufs Geratewohl ab und zu an. Ich sah sehr bekannte Überschriften: Bacon, Francis; Blunt, Sir Anthony; Caine, Sir Michael (Maurice Joseph Micklewhite); Clinton, William Jefferson »Bill«; Coppola, Francis Ford; Le Carré, John (David Cornwell); Richard, Keith (The Rolling Stones); Straw, Jack (der britische Außenminister, zuvor Innenminister, der Pinochet laufenließ, was für ein Schandfleck, er war es, über den ich an jenem Morgen Angaben brauchte, über seine unschickliche Vergangenheit), Thatcher, Margaret Hilda, Baroness . Es waren ihre Karten, die mein Finger anhielt, einige waren schon tot. Zahlreiche andere Überschriften sagten mir nichts, waren mir unbekannt: Booth, Thomas; Dearlove, Richard; Marriott, Roger (Alan Dobson); Pirie-Gordon, Sarah Jane; Ramsay, Margaret »Meta«, Baroness; Rennie, Sir John; Skelton, Stanyhurst (Marius Kociejowski); Truman, Ronald; West, Nigel (Rupert Allason) , mein Blick fiel auf sie, so viele Leute, die nicht hießen, wie sie hießen, mein Gedächtnis ist ausgezeichnet, was Namen betrifft.
    Es war angenehm, daß sie sich diese Mühe mit mir machten, angesichts dieser Gesellschaft; daß sie mich ergründen wollten, daß sie mir Beachtung schenkten. Was mich am meisten neugierig machte, war zweifellos die Stelle, wo der Verfasser oder Ergründer, wer immer er war, sich offen an eine andere Person, an jemanden wandte, was darauf hindeutete, daß seine Impressionen oder Vermutungen einen konkreten Adressaten hatten: ›Über mich, über dich, über sie‹, sagte er. ›Er weiß mehr über uns als wir selbst.‹ Ich dachte, daß logischerweise die junge Nuix ›sie‹ sein mußte, obwohl ich keine absolute Gewißheit haben konnte. Doch wer war dieses ›du‹, wer war dieses ›ich‹. Es gab mehrere Möglichkeiten, ich konnte es überhaupt nicht wissen. Und daher auch nicht, wer glaubte, daß man mich fürchten müsse, auch das wunderte mich ziemlich, denn das glaubte ich damals nicht. (Es sei denn, es handelte sich um ein metaphorisches, hypothetisches, austauschbares ›ich‹, ›du‹ und ›sie‹, als hätte der Satz gelautet: ›Es macht fast angst sich vorzustellen, wieviel er sieht und wieviel er weiß. Über diesen, über jenen, über XY.‹) Überflüssig zu sagen, daß diese Notizen keine Unterschrift trugen, wie auch die anderen der Kartei oder zumindest in diesem Kasten. Sie schienen alle mit fliegender Feder geschrieben zu sein, nach dem wenigen zu urteilen, das ich kurz zu betrachten wagte, als mein Daumen einige anhielt: sie waren ebenso schweifend und spekulativ in bezug auf meine Person wie in bezug auf den Ex-Präsidenten Clinton oder Mrs. Thatcher, ich überflog sie kurz.
    »Ich glaube ja, daß er dazu sehr wohl fähig wäre«, antwortete ich Tupra auf seine Frage über den Gastgeber des Abendessens- cum -Berühmtheiten (er selbst eine Sänger-Berühmtheit, ich werde ihn hier Dick Dearlove nennen, wie einen der unbekannten, unglaubwürdigen, in der Kartei erblickten Namen, dort erfuhr ich, daß er ein hoher und sehr seriöser Beamter von irgend etwas war, ich las nur ein paar Zeilen, aber mit einem derartigen Nachnamen hätte er verdient, ein großes Massenidol zu sein, zu Hause auf allen Bühnen der Welt, wie unser singender Gastgeber und vormaliger Zahnarzt), nachdem ich einige Sekunden überlegt hatte. »In einer gefährlichen Situation würde er natürlich zuerst zuschlagen, wenn er Gelegenheit dazu hätte. Sogar vorher, ich meine, bevor die Gefahr für sein Leben unmittelbar und sicher wäre. Der bloße Schatten einer schweren Bedrohung würde ihn zu einem maßlosen, ja sogar unkontrollierbaren Menschen machen. Er würde rasch mit Gewalt reagieren, glaube ich. Oder besser gesagt, er würde ihr zuvorkommen: Ich weiß nicht, ob es das im Englischen gibt, im Spanischen haben wir den Spruch: Wer zuerst trifft, trifft

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