Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
spanisch, das durfte ich sicherlich nicht vergessen. Jedenfalls weiß ich sehr gut, daß eine Frau, die nicht einmal Anstalten macht, die überraschte Blöße sogleich zu bedecken, sei es auch nur instinktiv (von Stripteasetänzerinnen einmal abgesehen, ich habe eine gekannt), dies deshalb tut, weil sie den, der sie überrascht hat und betrachtet, nicht verwirft, und das gilt noch immer für alle lebenden Generationen oder zumindest für die erwachsenen. Nicht, daß die Frau sich angezogen fühlt von dieser Person oder sie zwangsläufig begehrt, derart naive Vermutungen liegen mir fern. Nur, sie verwirft sie nicht oder schließt sie nicht aus, nicht ganz, und sehr wahrscheinlich erkennt oder merkt sie das erst in diesem Augenblick, in dem Augenblick, da sie sich von dieser Person gesehen sieht und beschließt, sich nicht für sie zu bedecken, oder vielleicht ist nicht einmal eine Entscheidung im Spiel. Im nachhinein oder in der Erinnerung wirkte der erhobene Arm der jungen Nuix auf mich nicht mehr wie der einer Statue: ich sah ihn eher so, als halte er sich an der Stange eines Busses fest oder als umschließe ihre Hand den oberen Haltegriff in einem Metroabteil. Daran klammerte er sich noch, der hochgereckte Arm, als ich die Tür schloß und ihn nicht mehr sah, mitsamt der glatten Achselhöhle, die den Rest um so mehr hervorhob. Sie muß ihn gleich darauf gesenkt haben. Alles dauerte zwölf Sekunden. Ich habe sie nicht sofort gezählt, sondern ebenfalls später, in der Erinnerung.
I ch wußte damals nicht, was man mit diesem Ausdruck sagen wollte, der häufig sowohl in den schriftlichen als auch in den mündlichen Berichten auftauchte und sogar in den spontanen, scheinbar beiläufigen Äußerungen, die während des Studiums von Fotos und Videos oder von Personen aus Fleisch und Blut ausgetauscht wurden, die Tupra eingeladen oder oft vorgeladen oder sogar herbeibefohlen hatte, wie mir schien. Wenn wir im Auftrag anderer arbeiteten, wenn wir keine eigenen Interessen hatten und nur unsere Meinung abgaben und begutachteten und urteilten, war zu vermuten, daß die Beobachteten, die »nützen« oder »nicht nützen«, von »großem« oder »keinerlei Nutzen« sein konnten (ich selbst gebrauchte diese Formulierungen bald und gewöhnte mich an den Begriff, ohne ihn je ganz zu verstehen, so viele Dinge ersetzt die Praxis oder auf so viele verzichtet die voreilige Gewöhnung), diesen Nutzen in jedem Fall für die Auftraggeber der verschiedenen Aufgaben besäßen, je nach deren konkreten Bedürfnissen und spezifischen Ermittlungen oder Anliegen, die vielfältiger sein mußten, als ich mir anfänglich vorgestellt hatte, als Wheeler mir von der Vergangenheit oder Vorgeschichte der Gruppe erzählt hatte, wie er sie in Ermangelung eines richtigen Namens nannte, um sie nicht zu benennen (»Darüber werden dir die Bücher nichts sagen«, hatte er mich gewarnt, »such nicht in ihnen, du wirst nur die Geduld und Zeit verlieren.«)
Die Herkunft oder der Ursprung jedes Auftrags war mir gewöhnlich unbekannt, das wurde selten erwähnt, ich neigte zu der Annahme, daß alle oder die große Mehrheit von offiziellen, staatlichen, ministeriellen, behördlichen britischen Instanzen kamen oder manchmal (je nach den entfernten oder wiederkehrenden Nationalitäten der Studienobjekte) von ihrem jeweiligen Pendant in befreundeten oder interesse- und umständehalber verbündeten Ländern: es gab eine überraschend hohe Zahl von Australiern, Neuseeländern, Kanadiern, Ägyptern, Saudis und Nordamerikanern, die über unsere Bildschirme zogen, vor allem von letzteren. Ich konnte mir auch nicht erklären, warum man einige dieser Personen der Überwachung und Beurteilung unterzog (denn das war der vorherrschende Eindruck: daß wir sie überwachten und beurteilten), erst recht dann nicht, wenn man uns später nicht über irgendein bestimmtes Gebiet oder eine bestimmte Sache oder Eigenschaft befragte. Die Richterin Walton zum Beispiel. Weder Tupra noch Mulryan noch Rendel stellten mir nach meinem Wachdienst irgendeine spezifische Frage über sie (vielleicht aber der jungen Nuix, die so viel von ihrem Charakter erfaßt hatte), und ich konnte mir schwer vorstellen, was zum Teufel es an einer so gestandenen, intelligenten und soliden Frau, wie sie es zu sein schien, zu sehen, zu deuten, zu entziffern, zu ergründen oder zu entlarven gab. Andere Male ja, die Art der Fragen selbst gab mir eine Vorstellung davon, worum es ging, worauf es Tupra, Mulryan, Rendel,
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