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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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für wert befunden hatte, archiviert zu werden, und sie mit dem Computer oder der Schreibmaschine hatte abschreiben lassen – vielleicht hatte er selbst sich die Mühe gemacht, sie eigenhändig zu übertragen. Ich las rasch, dann begrub ich sie wieder. Niemand hatte mir jemals verboten, diese alte Kartei zu konsultieren, aber ich hatte das sehr deutliche Gefühl, daß ich mich besser nicht dabei ertappen ließ, wie ich ausspionierte, was über mich geschrieben stand und man mir nicht gezeigt hatte. Der Bericht war kurz, es waren fast impressionistische, nicht geordnete oder strukturierte Notizen, leicht verwundert und widersprüchlich, vielleicht unschlüssig. Mehr oder weniger lauteten sie:
    ›Es ist, als würde er sich selbst nicht sehr genau kennen. Er denkt sich nicht, obwohl er es glaubt (aber er glaubt es auch nicht mit großer Überzeugung). Er sieht sich nicht, er weiß nichts von sich oder besser gesagt, er horcht nicht in sich hinein und erforscht sich nicht. Ja, es ist eher das: nicht, daß er sich nicht kennt, aber diese Kenntnis interessiert ihn nicht, und daher kultiviert er sie kaum. Er vertieft sie nicht, er würde das als Zeitverschwendung betrachten. Vielleicht interessiert sie ihn nicht, weil sie zu alt ist, er fühlt geringe Neugier für sich selbst. Er setzt sich selbst als selbstverständlich oder als gewußt voraus. Aber die Menschen ändern sich. Er beschäftigt sich nicht damit, seine Änderungen zu registrieren oder zu analysieren, er ist nicht auf dem laufenden, was sie betrifft. Er ist introvertiert. Und doch schaut er nach außen, wenn er am meisten nach innen zu schauen scheint. Ihn interessiert nur das Äußere, die anderen, und deshalb hat er einen so guten Blick. Doch die anderen interessieren ihn nicht deshalb, weil er in ihr Leben eingreifen oder es beeinflussen wollte, oder aus Nützlichkeitsdenken. Es kann sein, daß ihm ziemlich egal ist, was anderen geschieht. Nicht, daß er die Dinge nicht bedauert oder begrüßt, er ist solidarisch, sie sind ihm nicht gleichgültig. Aber in einer etwas abstrakten Weise. Oder womöglich ist er sehr stoisch, was die anderen und was ihn selbst betrifft. Die Dinge geschehen, und er registriert sie, ohne eine bestimmte Absicht, ohne sich in den meisten Fällen betroffen oder gar involviert zu fühlen. Vielleicht nimmt er deshalb so vieles wahr. So vieles entgeht ihm nicht, daß es fast angst macht, sich vorzustellen, was er weiß, wieviel er sieht und wieviel er weiß. Über mich, über dich, über sie. Er weiß mehr über uns als wir selbst. Ich meine, über unsere Charaktere. Oder mehr noch, über unsere Formen. Mit einem Wissen, das uns fremd ist. Er urteilt wenig. Am seltsamsten ist, daß er keinen Gebrauch von seinem Wissen macht. Es ist, als würde er parallel ein theoretisches Leben leben oder ein künftiges Leben, das im Hinterzimmer wartet, bis es an der Reihe ist. Bis seine Stunde kommt in einer anderen Existenz. Und als würden all die Entdeckungen, Erkundungen, Informationen und Feststellungen in diese eingehen und nicht in die gegenwärtige, tatsächliche. Selbst das, was ihn sehr wohl betrifft, sogar seine eigenen Erfahrungen und seine Kümmernisse, scheinen sich in zwei Teile zu spalten, von denen einer für dieses rein theoretische oder der Erwartung überantwortete Wissen bestimmt zu sein scheint. Um es zu bereichern, um es zu nähren. Sonderbar, zu keinem Zweck. Zumindest in seinem wirklichen, fortschreitenden Leben. Er macht keinen Gebrauch von seinem Wissen, das ist sehr merkwürdig. Aber er hat es. Und wenn er eines Tages doch davon Gebrauch machen sollte, dann müßte man ihn fürchten. Ich glaube, daß er nicht verzeiht. Bisweilen sehe ich ihn wie ein Rätsel. Und bisweilen glaube ich, daß er es auch für sich selbst ist. Dann denke ich wieder, daß er sich nicht sehr gut kennt. Und daß er sich keine Aufmerksamkeit schenkt, weil er in Wirklichkeit darauf verzichtet hat, sich zu verstehen. Er hält sich für einen hoffnungslosen Fall, an den er keine Überlegungen verschwenden darf. Er weiß, daß er sich nicht versteht und es nie tun wird. Und deshalb versucht er es gar nicht. Ich glaube, er stellt keine Gefahr dar. Aber fürchten muß man ihn wohl.‹
    Um die Wahrheit zu sagen, es erschütterte mich nicht, obwohl jener Text mich auf den Gedanken brachte, daß es irgendwo einen wirklichen, regelrechten Bericht über mich geben mußte, mit Angaben und zeitlichen Daten, feststellbaren Tatsachen und detaillierten

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