Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Möglichkeit bleiben, unserem Urteil keine Beachtung zu schenken, es zum Teufel zu schicken, wenn es für ihn bestimmt ist, wenn er es ist, der uns den Auftrag erteilt hat.« Da wußte ich schon, daß man nicht allzusehr auf die Wortwahl achtete während der Sitzungen. »Aber sie ist ihm untreu, ich wette meinen Hals darauf.« Am Ende riskierte man immer alles. Vielleicht war es der herausgeforderte Stolz, vielleicht sah man immer klarer, während man sprach; oder man überzeugte sich. Wie gefährlich ist es, etwas zu sagen. Nicht nur, daß andere nicht mehr außer acht lassen können, was man gesagt hat. Auch man selbst sieht sich genötigt, es zu berücksichtigen, wenn es erst einmal im Raum schwebt und nicht mehr nur in den eigenen Gedanken, wo alles noch verworfen werden kann. Wenn es erst einmal gehört wurde und in das Wissen der anderen eingegangen ist, die es jetzt benutzen und es sich sogar aneignen und sogar gegen uns wenden können.
Oder es konnte Tupra sein, der mich in seinem gemütlichen Büro befragte, am Morgen nach einem mit Berühmtheiten garnierten Abendessen, in das er mich einbezogen und zu dem er mich mitgenommen hatte – »Ein alter spanischer Freund, der gerade angekommen ist, und ein großer Künstler, ich konnte ihn doch nicht allein im Hotel lassen.« »Ein großer Künstler zu sein ist heutzutage die beste Visitenkarte«, pflegte er zu mir zu sagen, »außerdem verpflichtet sie zu weiter nichts, denn das kann man in jedem Bereich sein, als Innendekorateur, als Schuhfabrikant, als Produzent arabischer Fliesen oder als Tortenbäcker« –, weil zwei Landsleute von mir daran teilnahmen, er Künstler der Finanzen, sie der Theaterwelt, die ich ablenken und nebenbei ein wenig über den Gastgeber ausfragen sollte, während Tupra sich diesen und anderes britisches Großwild vornahm.
»Sag mal, Jack, glaubst du, daß diese Witzfigur, unser Gastgeber gestern abend, ja, dieser lächerliche Sänger, glaubst du, daß er fähig wäre, zu töten? Zum Beispiel in irgendeiner extremen Situation, wenn er sich sehr bedroht fühlen würde. Oder daß er es keinesfalls könnte, daß er einer von denen wäre, die sich kampflos ergeben und lieber niederstechen lassen, als selbst zuzustechen? Oder glaubst du vielmehr, er könnte es durchaus und sogar kaltblütig?«
Und ich überlegte eine Weile und antwortete nie mehr ›Ich weiß nicht, wie kann ich das wissen‹, auf keine noch so merkwürdige oder spitzfindige oder wunderliche oder übergenaue Frage antwortete ich so, auch wenn sie sich auf derlei Rätsel bezog, wer hat schon eine Vorstellung davon, wer töten kann und wann und mit welchem heißen oder kalten oder lauen Blut. Und doch wagte ich mich immer mit etwas vor, wobei ich versuchte, aufrichtig zu sein, das heißt, etwas zu sehen versuchte, bevor ich es sagte, und vermied, nur ins Blaue hinein zu reden oder nur deshalb, weil es von mir erwartet wurde. Ich versuchte, mich zumindest in die Situation oder die Hypothese hineinzufühlen, in die mich die Fragen meiner Vorgesetzten oder meiner Kollegen versetzten. Und am seltsamsten oder erschreckendsten war, daß ich jedes Mal am Ende etwas sah oder ahnte (ich will damit sagen, daß ich es nicht erfand, es waren weder Hirngespinste noch Lügenmärchen) und folglich etwas äußerte, das ist zweifellos der Prozeß der Kühnheit, was erreicht man nicht alles durch Praxis und an sich selbst gestellte Ansprüche. Das Problem fast aller Menschen, ihre Beschränkungen, rühren aus ihrer mangelnden Ausdauer, aus ihrer Trägheit oder leichten Zufriedenheit, auch aus ihrer Angst. Fast alle legen sie eine kurze Strecke zurück, dann bremsen sie, halten an, setzen sich hin und erholen sich von dem Schrecken oder schlafen ein, und so bleiben sie auf halbem Wege stehen. Jemand hat eine Idee, und damit begnügt er sich normalerweise, mit dem Einfall, er beläßt es zufrieden beim ersten Gedanken oder bei der Entdeckung und denkt nicht mehr weiter oder schreibt nicht mit größerer Tiefe weiter, wenn er schreibt, fordert nicht von sich, weiter zu gehen; er gibt sich zufrieden mit der ersten Kerbe oder noch weniger: mit dem Anritzen, mit dem Durchdringen einer einzigen Schicht bei Menschen und Dingen, bei Absichten und Mutmaßungen, bei Wahrheiten und Lügen, unsere Zeit duldet keine innere Unzufriedenheit und natürlich keine Beständigkeit, sie ist in einer Weise organisiert, daß alles sogleich ermüdet und die Aufmerksamkeit sprunghaft und erratisch ist und der Flug
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