Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
alle Augenblicke zu sagen: ›Ich bin Nobelpreisträger, ich bin es, ich bin ein Nobelpreisträger, und wie habe ich geglänzt in Stockholm‹, und das bisweilen mit lauter Stimme, sie wurden von besorgten Mitmenschen gehört. Aber ich kenne auch ziemlich viele objektiv unbedeutende oder unbekannte Leute, die sich in dieser oder ähnlicher Weise wahrnehmen und ihrem Leben beiwohnen, als säßen sie im Theater. Ein ständiges Theater, allerdings repetitiv und monoton bis zum Erbrechen, das mit keiner Einzelheit und keiner einzigen Sekunde Langeweile spart. Doch diese Leute sind überaus wohlwollende, leicht zufriedenzustellende Zuschauer, nicht umsonst ist ein jeder von ihnen Autor, Schauspieler und Hauptdarsteller seines jeweiligen – sozusagen – dramatischen Werkes. Wie Sie wissen, hat das Internet diese Art, zu leben und sich zu sehen, möglich gemacht. Ich habe gehört, daß es Leute gibt, die sogar Geld damit verdienen, daß sie das zeigen, jeden stinklangweiligen, erbärmlichen Augenblick ihrer Existenz, die ohne Unterbrechungen von einer statischen Kamera aufgenommen wird. Das Erstaunliche, das geistig Krankhafte, das durch und durch Ungesunde ist, daß es Leute gibt, die bereit sind, sich das anzuschauen, und dafür bezahlen; ich meine, andere Zuschauer als die Autoren, Schauspieler, Hauptdarsteller selbst, bei denen ist es nicht besonders anormal, bei denen ist es erklärlich.«
»Komm, Yago, bitte: zur Sache. Bei deinen Exkursen folge ich dir nicht. Dearlove. Wann, glaubst du, könnte er am ehesten jemanden umlegen?«
Natürlich folgte mir Tupra bei meinen Exkursen, er verirrte sich nie, auch wenn das, was er hörte, ihn wenig interessierte, und ich glaube, mit mir langweilte er sich nicht, man merkt, wenn man die Aufmerksamkeit seines Gegenübers fesselt, ich habe nicht umsonst unterrichtet, das liegt nun mehr und mehr in der Zeit zurück. Manchmal nannte er mich so, Yago, in der klassischen Form, wenn er mich ärgern oder aber auf den Punkt bringen wollte. Er wußte, daß Wheeler mich Jacobo nannte, und wagte wahrscheinlich nicht den Versuch, den Namen auszusprechen, so beließ er es bei der Hälfte, in shakespearscher Vertrautheit, vielleicht mit spöttischen Hintergedanken, das war nicht auszuschließen. Natürlich folgte Tupra mir, aber bisweilen tat er, als hindere ihn die traditionelle Aversion des englischen Bildungsideals und Geistes gegen das Spekulative und Theoretische daran, mich allzuweit bei meinen Abschweifungen zu begleiten. Er folgte nicht nur allem, sondern registrierte, archivierte, bewahrte es auch. Und er war sehr wohl fähig, es sich anzueignen.
»Entschuldigen Sie, Mr. Tupra, es war nicht meine Absicht, abzuschweifen«, sagte ich; damals war ich noch gesittet. »Gut, man sagt, Dearlove sei bisexuell oder pentasexuell oder pansexuell, ich weiß nicht, supersexuell, eine lebende Furie, in der Presse fehlt es nicht an Andeutungen. Und natürlich erschien er mir gestern abend überaus angeregt, als er sich seinen grünen Kittel überzog und darauf bestand, Mrs. Thompsons Karies zu behandeln. Obwohl er zweifellos größeren Genuß empfunden hätte, wenn er im Mund ihres jungen Sohnes hätte herumstochern können. Ein Jammer für Doktor Dearlove, nehme ich an, daß der Junge sich nicht hergab für die Behandlung, trotz seines honigsüßen Drängens. Man sagt ebenfalls, daß ihn die … die Pubertierenden, sagt man so?, sehr rühren.«
»So sagt man, ja«, antwortete Tupra in ernstem Ton, aber mit einem Gesicht, in dem kaum verhohlen stand, daß all das ihn amüsierte. »Und?«
»Schön, nehmen wir an, daß ein Minderjähriger ihm eine Falle stellt, Junge oder Mädchen, das ist mir egal. Wenn ich nicht falsch informiert bin, dann läßt er diese ganzen Gerüchte ruhig in Umlauf sein, da sie nur das sind, Gerüchte. Ich vermute, das ist nicht die schlechteste Form, ihnen Nahrung zu geben: sie zu übersehen, sie nicht durch Dementis und Klagen und Beschwerden zu bestätigen. Er hat nie ein Wort über seine sexuellen Vorlieben verloren, soweit mir bekannt ist. Und na ja, schließlich und endlich weiß man von seinen beiden Ehen, wenn sie auch kinderlos blieben, und daran hält man sich offiziell, nicht?«
»Mehr oder weniger. Ich bin nicht besonders unterrichtet über diese Punkte.«
»Gut, nehmen wir an, ein Minderjähriger oder eine Minderjährige schläfern ihn mit einer Pille im Drink ein. Mitten bei der Sache, als beide schon nackt sind und so. Nehmen wir an, sie machen Fotos
Weitere Kostenlose Bücher