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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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größten Belanglosigkeiten oder der toten Zeiten. Vielleicht ist es ein Ersatz der alten Vorstellung von der Allgegenwart Gottes, der mit seinem Auge aufmerksam jede Sekunde des Lebens eines jeden verfolgt, das war im Grunde sehr schmeichelhaft, sehr tröstlich trotz des darin enthaltenen Elements von Drohung und Strafe, und drei oder vier Generationen genügen nicht, damit der Mensch sich damit abfindet, daß seine mühselige Existenz vergeht, ohne daß jemand ihr jemals beiwohnt oder sie betrachtet, ohne daß jemand sie beurteilt oder mißbilligt. Einen gibt es allerdings immer: einen Zuhörer, einen Leser, einen Zuschauer, einen Zeugen; und einen simultanen Erzähler und Schauspieler, die mit ersteren identisch sind: es ist der einzelne selbst, der sich seine Geschichte erzählt, ein jeder die seine, der sich über sie beugt und sie tagtäglich wieder und wieder betrachtet, von außen bis zu einem gewissen Grad; oder besser gesagt von einem falschen Außen, der Verallgemeinerung des Narzißmus, bisweilen ›Bewußtsein‹ genannt. Deshalb gibt es so viele, die den Spott nicht ertragen, den Hohn, die Lächerlichkeit, das Aufsteigen des Blutes ins Gesicht, die Kränkung, das am allerwenigsten. Dearlove übermannt dieser Ekel, diese Bestürzung, ihn besiegt dieser Schwindel, und wenn er darunter leidet, wenn er einen Anfall hat, dann denkt er nicht mehr. Wenn er sein Auge halb öffnet und begreift, was los ist, dann kommt ihm wahrscheinlich nicht einmal der Gedanke, den Versuch zu machen, die Fotos zu kaufen, mehr für sie zu bieten, als jemals irgendein Blatt der Sensationspresse geben würde, mit dem Jungen oder dem Mädchen zu einer Vereinbarung zu kommen, zu verhandeln, zu bestechen, sie zu täuschen, sie für immer unter Vertrag zu nehmen. Sein Vermögen, wenn er Flugzeug und Hubschrauber besitzt, würde ihm erlauben, sie zehntausendmal, hunderttausendmal zu kaufen, mit Leib und Sklaverei und Seele.«
    »Das würde er nicht versuchen. Sagst du. Was würde er tun. Was würde er deiner Meinung nach dann tun.«
    »Das gleiche wie bei den Messerstechern von Brixton, glaube ich. Er würde ihnen schlecht zuvorkommen. Er würde sich überstürzen. Er würde versuchen zu töten, er würde töten. Er würde den Minderjährigen töten, das Mädchen oder den Jungen, wen immer er an diesem Abend mit zu sich nach Hause genommen hätte. Ein schwerer Aschenbecher tötet, zertrümmert den Schädel. Ein Krug, ein Briefbeschwerer, ein Brieföffner, jedes Ding tötet, ganz zu schweigen von diesen Schwertern und Lanzen, mit denen er die Wand seines Wohnzimmers dekoriert hat, die lange Wand im Wohnzimmer neben dem Eßzimmer, wo wir zu Abend gegessen haben; Sie werden es gesehen haben gestern abend, nehme ich an.«
    »Ich habe es gesehen«, sagte Tupra. »Es kann sein, daß ich nicht zum ersten Mal dort war, meinst du nicht?«
    »Natürlich. Es paßt zu Dearlove, ein Liebhaber des Mittelalters oder des Keltischen und Halbmagischen zu sein. Der Schick des Phantastischen. Ich sehe es so: Obwohl er ziemlich betäubt ist durch die Pille oder gerade deshalb, zieht er Kräfte aus seinem gewaltigen Schrecken und schafft es schwankend bis zu dieser Wand; er erlebt den furchtbaren erzählerischen Auswuchs, mit dem er durch die Schuld dieser Bilder, die man hinterrücks von ihm gemacht hat, für immer wird leben müssen, als bereits vollendete, sichere Tatsache, und das berechtigt oder befähigt ihn in seinem Nebel, jähzornig und maßlos zu sein. Also nimmt er eine dieser Lanzen von der Wand und durchstößt mit ihr die Brust des Mädchens oder des Jungen und verheert ihr Fleisch, das er zuvor begehrt hatte, ohne an die Folgen zu denken, nicht in diesem Augenblick. In solchen Augenblicken sehen diese Männer nicht, sie sehen nicht, was ihnen nur drei Minuten später deutlich vor Augen stehen wird: daß es weniger schwer ist, ein paar Fotos verschwinden zu lassen, als eine Leiche, weniger mühsam, jemandem den Mund zu stopfen, als seine vielen Liter vergossenen Blutes zu entfernen. Ich sagte Ihnen ja: Ich habe solche Typen gekannt, Typen, die ein Niemand waren und doch diese Riesenangst vor ihrer Geschichte hatten, vor der, die erzählt werden könnte und die sie sich daher selbst würden erzählen müssen. Vor ihrer beschmutzten, häßlichen Geschichte. Aber es ist immer von außen, das möchte ich betonen, das Entscheidende ist das Äußere: Das Ganze hat wenig zu tun mit Scham, Bedauern, Reue, Selbstverachtung, obwohl dies Faktoren sind,

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