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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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von ihm, während er im Limbus umherirrt, der Junge oder das Mädchen kommen auch aufs Bild natürlich, sie stellen den Apparat auf automatisch und übernehmen die Bühnenregie, eine schlaffe Puppe in ihren Händen, unser vormaliger Zahnarzt. Nehmen wir an, daß die Pille jedoch nicht stark genug wirkt auf den titanischen Doktor Dearlove: daß ein innerer Alarm ihm hilft, sich zu wehren. So daß er also nicht richtig tief einschläft oder vorzeitig erwacht. Mit einem halboffenen Auge sieht er, was geschieht. Mit einem Viertel seines Bewußtseins begreift er die Situation, sogar mit einem Zehntel. Nicht, daß er Puritaner ist in seinen öffentlichen Stellungnahmen und Statements, das würde ihn um Anhänger bringen; er ist eher kühn, ohne zu weit zu gehen, er verteidigt die Legalisierung der Drogen, die verantwortungsvolle Euthanasie, diese Art von Themen, die keine Kunden verscheuchen. Doch das Erscheinen derartiger Fotos in der Presse gehört einer anderen Kategorie an, der gleichen wie sein Tod durch Messerstecher aus Brixton, Clapham oder Stratham. Genau der gleichen, ich weiß nicht, ob Sie einverstanden sind. Obwohl er in einem Fall der verächtliche, widerwärtige Rechtsbrecher und im anderen das arme, bemitleidete und beweinte Opfer ist. In erzählerischer Hinsicht liegt das nicht weit auseinander, beides sind Auswüchse. Hier, beim Kuß des Schlafes und bei den Fotos, würde es sich nicht um ein Ende handeln, wohl aber um eine Episode, die sich für immer einen Platz in seiner Geschichte erobern, die niemals mehr ausgespart würde im Märchen oder in der Idee von Dick Dearlove. Und so, wie die Gemüter auf den Mißbrauch Minderjähriger reagieren, könnte es ihm sogar Verhaftung und einen bösen Prozeß einbringen. Und selbst wenn er später freigesprochen würde, könnte er nur wegen der Anklage und ihrem Echo, wegen der tausendmal gesehenen und wiederholten Bilder, wegen des monatelangen Skandals und schweren Verdachts, auch in diesem Fall als mütterliche Litanei für die heranwachsenden Sprößlinge enden: ›Paß auf, mit wem du dich einläßt, nicht, daß du an einen Dick Dearlove gerätst.‹ Sie sehen, das ist das dumme am Berühmtsein, wenn man nicht aufpaßt, endet man in einer Ballade.«
    »Ich sehe, du bist ziemlich informiert über die Witzfigur. Sogar über seine Ansichten, ganz schön verdienstvoll«, sagte Tupra spöttisch.
    »Ich habe Ihnen doch gesagt, daß er ein unglaubliches Idol in Spanien ist, fast so wie hier, würde ich sagen. Er hat dort viele Konzerte gegeben. Es ist schwierig, nicht informiert zu sein.«
    »In meiner Vorstellung sind das strenge Leute, die derzeitigen Bewohner des Baskenlandes«, fügte er mit ehrlicher Verwunderung hinzu. Niemals entging ihm etwas, vergaß er etwas.
    »Streng? Na ja, je nachdem. Es gibt auch eine Menge Witzfiguren. Der Caudillo gibt das Muster vor, Sie wissen ja. Wie in der Lombardei. Oder wie in ganz Italien jetzt. Von Venezuela ganz zu schweigen, denken Sie an unseren Freund Bonanza.«
    »Glaub ja nicht, hier sind wir nicht mehr weit entfernt«, antwortete er, und das empörte mich ein wenig, in Wirklichkeit ohne Grund: Ich wußte nicht sicher, für wen Tupra arbeitete (das heißt, wir arbeiteten), es gab nur Anspielungen von Wheeler und unüberlegte Schlußfolgerungen von mir. »Der Kuß des Schlafes, hast du gesagt?«
    »Unter dieser Bezeichnung ist die Methode in Spanien bekannt, man benutzt sie vor allem, um dem Eingeschläferten die Wohnung auszuräumen. So wurde sie in der Presse genannt.«
    »Nicht schlecht, der Kuß des Schlafes.« Ihm gefiel die Wendung. »Was ist also mit dem von Dearlove. Er wacht geküßt auf, mit einem halben Auge. Und was passiert.«
    »Irgendwas Schreckliches, alles ist möglich, darauf wollte ich hinaus. Er könnte auch wegen so etwas töten, das ist nur ein Beispiel, es gäbe andere. Der erzählerische Horror, der Abscheu. Das läßt ihn die Kontrolle verlieren, ich bin überzeugt, es verblendet ihn. Ich habe andere Leute gekannt mit dieser Aversion oder dieser Panik, und dabei waren sie nicht mal berühmt, Berühmtheit ist kein entscheidender Faktor, es gibt viele Leute, die ihr Leben als Stoff einer minuziösen Erzählung empfinden, sie haben sich in ihr eingerichtet in Erwartung ihrer hypothetischen oder künftigen Geschichte. Sie nehmen es sich nicht ausdrücklich vor, es ist nur eine Art und Weise, die Dinge zu leben, ein Begleitetsein, sagen wir mal, als gäbe es Zuschauer oder ständige Zeugen noch der

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