Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
einem solchen privaten Flugzeug. Tupra ließ große Verachtung für Dearlove und ähnliche Gestalten erkennen, obwohl er mit nicht wenigen von ihnen, sei es aus dem Bereich des Fernsehens, der Mode, der Schlagermusik oder des Films, gelegentlich verkehrte und ihnen, soweit ich Zeuge war, unbefangen, freundlich und vertrauensvoll begegnete. Bisweilen fragte ich mich, ob diese Kontakte, die für gewöhnliche Menschen schwierig waren, ihm von höheren Sphären vermittelt wurden, aufgrund seines Amtes und um ihm die Arbeit zu erleichtern. Natürlich wußte ich nie genau, was das für ein Amt war. Im übrigen schien er sich in Gesellschaft der frivolsten Berühmtheiten nicht unbehaglich zu fühlen. Das konnte Teil seines beruflichen Rüstzeugs sein, seines Gewerbes, es bedeutete nicht zwangsläufig, daß er diese Gesellschaft schätzte. Tatsächlich schien er sich in keinem Ambiente unbehaglich zu fühlen, nicht in den gesetztesten oder seriösesten, nicht in den prätentiösesten oder dümmsten oder schlichtesten oder in der Unterwelt, er war ohne Zweifel ein Mann, der sich anpaßte, wann immer es nötig war. Dann knüpfte er wieder an das Vorherige an: »Sag mal, glaubst du, daß er fähig wäre, in irgendeiner anderen Situation zu töten, nicht nur, wenn er sein Leben in Gefahr sehen würde und obendrein, dir zufolge, sagen wir, in Frage gestellt? Vielleicht hast du recht, vielleicht würde es ihn mit Entsetzen erfüllen, wenn sein Ende häßlich wäre, unpassend, bedrückend, kränkend, sarkastisch, trübe, schmutzig …«
»Ich weiß nicht«, antwortete ich, etwas verprellt durch seine realistische Strenge, und sogleich bereute ich, die Worte gesagt zu haben, die in diesem Gebäude am meisten enttäuschten oder verachtet wurden: ›Ich weiß nicht.‹ Ich beeilte mich, sie zu bemänteln. »Das erscheint mir als das hauptsächliche mögliche Motiv, aber ich nehme an, daß sein Leben nicht unbedingt in Gefahr sein müßte, wenn ihm, wie ich glaube, seine Geschichte, die Erzählung dieses Lebens, gewissermaßen wichtiger ist als das Leben selbst. Obwohl ihm das wahrscheinlich nicht bewußt ist. Diese Priorität dürfte, glaube ich, nicht so sehr wegen der künftigen oder schon gegenwärtigen Biographen gegeben sein als deshalb, weil er sie sich täglich wiedererzählen muß, weil er mit ihr leben muß. Ich weiß nicht, ob ich mich klar ausdrücke.«
»Nein. Nicht ganz, Jack. Bemüh dich, bitte. Komm. Verhedder dich nicht.«
Diese Art Kommentar stachelte mich an, etwas infantil von meiner Seite, ich habe mich nie davon frei gemacht, und ich werde es nicht mehr tun, das ist sicher.
»Ihm gefällt sein Image, ihm gefällt seine Geschichte in ihrer Gesamtheit, mit ihrer zahnärztlichen Phase und allem; er verliert sie nie aus den Augen, er vergißt sie nie«, versuchte ich mich zu bemühen. »Ihm ist seine gesamte Laufbahn ständig gegenwärtig: seine Vergangenheit, folglich auch seine Zukunft. Er sieht sich selbst wie ein Märchen, für dessen Ausgang er Sorge tragen muß, aber für dessen Verlauf nicht weniger. Nicht, daß er keine Rückschläge oder Schwächen oder Flecke in diesem Märchen duldet, so naiv ist er nicht. Aber sie sollten von einer Art sein, die nicht unangenehm ins Auge sticht, die ihm nicht zwangsläufig (ein schrecklicher Auswuchs, eine Beule) ins Gesicht springt, wenn er sich jeden Morgen im Spiegel betrachtet und an ›Dick Dearlove‹ als an ein Ganzes, eine Idee denkt oder als wäre er der Titel eines Romans oder eines Films, die noch dazu bereits klassisch wären. Es hat nichts mit Moral oder mit Scham zu tun, das ist es nicht, tatsächlich schauen sich fast alle ohne das geringste Problem ins Gesicht, immer finden sich Entschuldigungen für die eigenen Verfehlungen oder Gründe, sie als solche vor sich selbst zu leugnen, schlechtes Gewissen und uneigennützige Reue sind nicht mehr von dieser Zeit, ich spreche von etwas anderem. Er sieht sich von außen, vor allem von außen, es fällt ihm nicht schwer, sich zu bewundern. Und vielleicht ist das erste, was er sich beim Aufwachen sagt, etwas in der Art wie: Donnerwetter, es war kein Traum: ich bin Dick Dearlove, niemand Geringeres, und ich habe das Privileg, tagtäglich mit einer solchen Legende zusammenzusein und Umgang zu haben. In Wirklichkeit ist das nicht weiter seltsam, ob man nun das Wort ›Legende‹ behält oder wegläßt. Man weiß von Schriftstellern, die den Nobelpreis bekommen haben und den Rest ihrer Tage damit verbrachten, sich
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