Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
Dieser Gedanke ist grauenvoll. Das Bild dieses Mädchens, das mit seinen eigenen Händen die Pfote meines Hundes abtrennt, das es mit eigenen Augen ansieht, das dabei ist, ist grauenvoll.« Die letzten Sätze von Alan Marriott hatten leicht empört geklungen; empört über die Blumenverkäuferin. Er hatte sich in diesem Augenblick unterbrochen, als wäre er allzusehr in den Sog seiner schaurigen Hypothese geraten und hätte in der Tat ein grauenvolles Paar vor sich gesehen. ›Mit den Augen des Geistes‹, als hätte er sie mit ihnen gesehen, zitierte ich für mich, durch mein Fenster. Er schien in Verwirrung geraten, vor sich selbst erschrocken zu sein. »Lassen wir das«, sagte er. Und obwohl ich ihn drängte: »Nein, fahren Sie fort, Sie sind dabei, eine Geschichte zu erfinden«, war er nicht bereit, weiter daran zu denken oder es sich vorzustellen: »Nein, lassen wir das. Es ist kein gutes Beispiel«, hatte er mit Bestimmtheit erwidert. »Wie Sie wollen«, hatte ich geantwortet, und dann waren wir zu etwas anderem übergegangen. Er wäre durch nichts dazu zu bewegen gewesen, mit seiner erfundenen Geschichte fortzufahren, das war mir sofort klar, nachdem sie ihn mit Bestürzung erfüllt hatte. Vielleicht hatte ihn vor ihr gegraut. Er mußte entsetzt über seinen eigenen Geist gewesen sein.
    Ein Hund und eine junge Frau mit hohen Stiefeln. An jenem regnerischen Abend sah ich diese Verbindung, dieses Bild tatsächlich zum ersten Mal mit meinen Augen; aber mein Gedächtnis hatte es bereits vor vielen Jahren registriert oder unheilvoll verbunden, in diesem, im gleichen Land, das nicht meines war, als ich noch nicht verheiratet war und kein Kind hatte. (Meine Zeit ähnelte mehr und mehr jener anderen: Jetzt waren weder Frau noch Kinder da, aber es gab sie, und ich schickte ihnen Geld, und ich sehnte mich auch täglich nach ihnen, jeden Tag in dem einen oder anderen Augenblick.) Die Blumenverkäuferin Jane pflegte die Stiefel über ihren Jeans zu tragen, fast wie ein Musketier. Die durch den Schirm verborgene Frau trug einen Rock, ich hatte kurz einen Schenkel erblickt. Es war bestimmt dieser unsichtbare Präzedenzfall, der Gedankengang, den der hinkende Bibliophile seinerzeit vor mir entwickelt hatte, der mich so erleichtert darüber sein ließ, daß der nächtliche weiße Pointer noch seine vier Pfoten hatte, ich hatte sie eine nach der anderen gezählt, obwohl ich sie natürlich auch mit einem Blick erfaßt hatte. Aber ich hatte mich vergewissern wollen (einer dieser Fälle von reflexhaftem Aberglauben, jetzt wurde es mir klar), daß er und seine Besitzerin nicht ein mögliches grauenvolles Paar bildeten, das längst von jemandem imaginiert worden war.
    Das war es, was ich gegen Bezahlung tat in dem namenlosen Gebäude. Ich stellte die ganze Zeit Gedankenverbindungen her, nicht so sehr Deutungen oder Entschlüsselungen oder Analysen, oder diese kamen erst später, als schwache Folge. Vielleicht hatte Wheeler es mir, ohne das Wort zu benutzen, an jenem Sonntag in Oxford in seinem Garten oder während des Mittagessens angekündigt: Weder gibt noch gab es je zwei gleiche Menschen, das wissen wir; aber es gibt auch niemanden, der nicht in irgendeiner Hinsicht mit jemandem verwandt ist, der bereits in der Welt gewesen ist, der nicht mit einem anderen durch Affinitäten verbunden ist, wie Wheeler es nannte. Es gab und gibt niemanden ohne jede Verbindung, ohne einen Nexus in bezug auf Schicksal oder Charakter, welche begrifflich dasselbe sind (paraphrasierte Wheeler offen), mit Ausnahme vielleicht der ersten Menschen, wenn es denn wirklich welche gab, die anderen vorausgingen, und es nicht vielmehr so war, daß viele zur gleichen Zeit an vielen Orten in Erscheinung traten. Man sieht zwei völlig unterschiedliche Personen, und man sieht sie außerdem durch eine Ewigkeit im eigenen Leben getrennt, so sehr, daß man die erste seit dieser Ewigkeit vergessen hat, wenn die zweite einem vor Augen tritt, so wie ich das Bild des von Alan Marriott erdachten grauenvollen Paares narkotisiert in mir trug. Es sind Personen, die sich durch Alter, Geschlecht, Bildung, Glaubensvorstellungen, Mentalität, Temperament, Gefühle voneinander unterscheiden; sie können unterschiedliche Sprachen sprechen, aus voneinander weit entfernten Ländern stammen, gegensätzliche Biographien haben und nicht eine einzige Erfahrung teilen, nicht eine parallele Stunde in ihren jeweiligen, in keinem Verhältnis zueinander stehenden Vergangenheiten, nicht eine

Weitere Kostenlose Bücher