Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
alles Zufall sein: Zuweilen hat man lange Minuten lang den gleichen Weg wie ein anderer Fußgänger, obwohl man nicht in gerader Linie geht, und zuweilen wird man deshalb ungeduldig, für nichts und wieder nichts, man wünscht sich nur, daß der Zufall sich auflöst und endet, in dem man ein schlechtes Vorzeichen sieht oder den man leid ist, zuweilen biegt man absichtlich ab von seiner Route und macht sogar einen unnötigen Umweg, nur um sich zu trennen und das hartnäckige parallele Wesen aus den Augen zu verlieren.
Es mochten zwischen uns beiden, besser gesagt, zwischen ihnen und mir, etwa zweihundert Yard oder mehr liegen, genug, damit ich hätte schreien oder etliche Schritte zurückgehen müssen, wenn mir danach gewesen wäre, mit ihr zu sprechen, die menschliche Gestalt zu befragen, eine Frau jüngeren Alters ohne Zweifel, ihre Stiefel waren wasserdicht, biegsam, glänzend, sie umschlossen dicht das Bein, es waren keine beliebigen Regenstiefel, sondern ausgewählte, gesuchte, womöglich teure, schmeichelhafte, vielleicht Markenstiefel. Ich schaute sie unverhohlen an, sie zeigte nicht ihr Gesicht, sie hob kein einziges Mal den Regenschirm, der es verdeckte, und erwiderte daher nicht meinen Blick, aber sie war auch nicht beunruhigt, weil ein Mann sie stehend aus keiner großen Entfernung beobachtete, nachts und inmitten dieser Sintflut. Sie ging in die Hocke, dabei öffneten sich die Schöße ihres Mantels, und ich sah ein Stück Oberschenkel, sie klopfte und streichelte den Rücken des Hundes, sie flüsterte ihm wahrscheinlich etwas zu, sie richtete sich wieder auf, und die Schöße schlossen sich, Schluß mit dem Anblick des Fleisches, sie verharrte reglos, ohne den Weg in irgendeine Richtung fortzusetzen, dabei kam mir der Gedanke, ihr eine gewisse Hilflosigkeit zu unterstellen, als hätte sie sich verlaufen in einer ihr unbekannten Gegend oder wäre eine junge Blinde mit ihrem Blindenhund oder Ausländerin und der Sprache unkundig oder eine Hure, die so in Nöten war, daß sie nicht eine einzige ihrer nächtlichen Paraden auslassen konnte, oder als zögerte sie, ob sie mich um Geld, Hilfe, Rat, irgend etwas bitten sollte. Nicht, weil ich ich war, sondern das einzig vorhandene parallele Wesen. Ich hatte das Gefühl, daß die Begegnung unmöglich war und zugleich, daß es schade wäre, wenn es nicht dazu käme, und besser, wenn sie nicht stattfände. Es war ein Gefühl des Bedauerns, ich weiß nicht, ob wegen mir oder wegen ihr, natürlich nicht wegen beiden, denn einer der beiden hätte den Schaden gehabt – dachte ich – und der andere den Vorteil, so ist es meistens bei dem, was auf der Straße entsteht.
Viele Jahre früher im selben Land, als ich in Oxford unterrichtete, war mir in müßigen Augenblicken ein Mann mit einem dreibeinigen Hund gefolgt, die linke Hinterpfote glatt amputiert, und hatte mich danach unangekündigt in meiner Wohnung besucht, er hieß Alan Marriott, er hinkte seinerseits deutlich auf dem linken Bein (aber er hatte es noch) und war ein Bibliomane, der von den Antiquaren, die ich dort aufsuchte, von meinen Büchervorlieben gehört hatte, die zum Teil mit den seinen übereinstimmten. Der Hund war ein Terrier, er mußte schon lange tot sein, der Arme, sie sind nicht so dauerhaft wie wir. Der Hund der jungen Frau kam mir aus der Entfernung wie ein Pointer vor, und seine vier Beine waren unversehrt, das freute mich seltsam, wegen des Gegensatzes zum Verkrüppelten, nehme ich an, der mir plötzlich in den Sinn kam in dieser Nacht ewigen Regens. ›Aber ich will von niemandem etwas‹, dachte ich, ›noch erwarte ich irgend etwas von irgend jemandem, und ich habe es eilig, aus diesem Regen heraus und nach Hause zu kommen und mich von den Interpretationen dieses langen Tages zu erholen, der nicht zu Ende geht oder erst dann zu Ende gehen wird, wenn ich oben in Sicherheit bin. Soll sie sich doch nähern, falls sie etwas von mir will oder mir gefolgt ist. Ihre Sache. Wenn sie das getan hat oder noch immer tut, dann wohl nicht umsonst, um dann nicht mit mir zu sprechen.‹ Ich wandte mich um und beschleunigte jetzt meine Schritte zu meinem Ziel, aber ich konnte es nicht vermeiden, die Ohren zu spitzen auf dem Wegstück, das mir noch blieb, und darauf zu achten, ob ich es noch immer hörte oder nicht, dieses tis tis tis, das in der Tat das eines Hundes mit seinen achtzehn Zehen war oder vielleicht das hoher Stiefel mit Absätzen, die so flach waren, daß sie über den Asphalt glitten, ohne
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