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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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sind ihnen daher unbekannt; niemals erkennen sie die Gefälligkeiten an, die man ihnen erweist, oder die Nachsicht, mit der man sie behandelt; sie betrachten erstere als Huldigung, letztere als Schwäche und Angst dessen, der die Rute in der Hand hielt und davon absah, sie zu züchtigen. Es sind ungenießbare Leute, die nie lernen und nie aus Erfahrung klug werden. Sie fühlen sich stets als Gläubiger der Welt, obwohl sie ihr ganzes Leben damit verbringen, sie in Gestalt unzähliger ihrer Sprößlinge, die ihnen ins Visier geraten sind, zu beleidigen und auszuplündern. Und wenn das Mädchen auch aus Altersgründen noch nicht viele hatte zur Strecke bringen können, so hatte ich doch keinen Zweifel, daß sie sich bald für die unerträgliche Zeit des Wartens schadlos halten würde, die das träge körperliche Wachstum den rasch und mit großem Weitblick entschlossenen Charakteren auferlegt. Und dann, wenn man diesen hochmütigen und grausamen Ausdruck voller Komplexe erkennt – immer ein Vorzeichen von Empörung –, wenn man diesen unheilvollen Nexus sieht, dann hört man auf, Neugier für das junge Mädchen zu zeigen, sie aus Sympathie zu beobachten, ihr mit seinen gewinnenden Erwachsenenfragen zu schmeicheln. Und sie, die das schlecht ertrug und die Aufmerksamkeiten verachtete, weil sie kamen, von wem sie kamen – ein Freund der Eltern, lästig, ein alter Knacker –, erträgt noch weniger den Entzug seiner Ehrerbietungen. Deshalb ißt sie den Nachtisch in aller Eile auf, erhebt sich vom Tisch, geht, ohne sich zu verabschieden. Sie hat eine weitere Kränkung erlitten, angehäuft, gesammelt.
    Andere Male ist es das Gegenteil, zum Glück: Was man sieht oder dingfest macht, assoziiert, ist so ersehnt und erwünscht, daß man sich auf der Stelle beruhigt, erzählt mir Wheeler. Man hört ein vertrautes Timbre in der Stimme und eine vertraute Betonung bei der Frau, mit der man spricht, sie wurde einem gerade vorgestellt. Man hört ihr leichtes Lachen mit wehmütigem Genuß, oder mehr noch, mit einer fernen Rührung. Man erinnert sich, man hört, erinnere dich: o ja, natürlich, wahrhaftig, ich kenne diese Geselligkeit, die ansteckende Fröhlichkeit, die rasche Auflösung der Nebelschwaden, den Aufruf zum Vergnügen, den Geist, der der eigenen Traurigkeit überdrüssig ist und alles in seiner Macht Stehende tut, um die Dosis zu erleichtern und zu verkürzen, die das Leben ihm auferlegt wie jedem anderen auch, auch ihr, sie entgeht ihr nicht. Aber sie liefert sich auch nicht aus oder fügt sich wehrlos, und sobald sie sieht, daß sie diese Last überlebt, richtet sie sich ein wenig auf und versucht, sie abzuschütteln, so weit wie möglich weg von ihrem zerbrechlichen Rücken. Nicht, um den Schmerz zu unterdrücken, als gäbe es ihn nicht, nicht, daß sie achtlos ist oder ausweicht, nicht, daß sie verantwortungslos vergißt; aber sie weiß, daß sie diese Traurigkeit nur in Schach halten kann, wenn sie die Sicht auf sie bewahrt, aus der Ferne, und sie so vielleicht verstehen kann. Und bei dieser Frau mittleren Alters gewahrt man die unverwechselbare Ähnlichkeit mit einer jungen Frau, die es für immer war, mit seiner eigenen Frau – Valerie, Val, es bleibt einem fast nur noch die Erinnerung an den Namen, aber jetzt treten einem wieder lebendige oder belebte Spuren von ihr in einer anderen Stimme und in einem anderen Gesicht vor Augen –, die früh gestorben ist und nicht einmal davon träumen konnte, diese Jahre zu erreichen, die natürlich kein Kind zur Welt bringen, es vielleicht nicht einmal in ihrer Phantasie Gestalt annehmen lassen konnte, zu jung ihr Tod, um sich als Mutter zu sehen, fast ohne Zeit, um sich mit Peter Wheeler oder mit Peter Rylands verheiratet zu sehen, um es sich vorstellen zu können, nicht nur, es zu sein. Sie hatte einen verträumten, klaren Blick und sehr heitere Lippen, voll liebevoller Ironie. Sie scherzte viel, sie gab die Gewohnheiten ihrer jungen Jahre nicht auf, sie war nie in der Lage dazu. Einmal sagte sie mir, warum sie mich liebte, mit diesen Lippen: »Weil ich gerne sehe, wie du die Zeitung liest, während ich frühstücke, vor allem deshalb. Ich sehe in deinem Gesicht, wie es der Welt an diesem Morgen geht und wie es jeden Morgen dir geht, dem hauptsächlichen Repräsentanten der Welt in meinem Leben. Dem bei weitem sichtbarsten.« Diese Worte kehren unerwartet zurück beim Hören des gleichen Timbres und der gleichen Betonung, beim Anblick des so vergleichbaren

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