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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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jeher für ihre Aufgaben bestimmt waren, daß sie geboren wurden für das, was sie tun oder was wir sie tun sehen, wo doch niemand jemals für irgend etwas geboren wurde und es keine gültige Bestimmung gibt und nichts gesichert ist, nicht einmal für die herrschaftlich oder reich geborenen, die alles verlieren können, oder die arm oder als Sklaven geborenen, die es gewinnen können, obwohl letzteres selten geschieht und fast nie ohne Raub oder Diebstahl oder Betrug, ohne List oder Verrat oder Täuschung, ohne Verschwörung oder Umsturz oder Usurpation oder Blut.
    Ich dachte jedenfalls, daß ich dieses entfernen sollte, den Fleck oben auf dem ersten Absatz, es ist seltsam – eine Verdammnis –, wie man sich verantwortlich fühlt für das, was man findet oder entdeckt, obwohl man nichts damit zu tun hat, wie wir fühlen, daß wir uns kümmern oder Abhilfe schaffen müssen für etwas, das einen Augenblick lang nur für uns existiert und nur wir zu kennen glauben, obwohl es uns nicht betrifft und wir keinen Anteil daran gehabt haben: ein Unfall, eine peinliche Situation, eine Ungerechtigkeit, ein Mißbrauch, ein ausgesetztes Neugeborenes, natürlich ein gefundener Leichnam oder einer, der es werden könnte, ein Verletzter, besagtem Freund, der ein wenig mit Drogen handelte – ein Schulkamerad, Comendador hieß er oder heißt er, wenn er seinen Namen nicht geändert hat in Amerika oder wo immer er hingegangen ist, jahrelang genau vor mir, wenn aufgerufen wurde, wenn er an der Reihe war, die Lektion aufzusagen oder durchfiel, wußte ich, daß ich der nächste war, immer auf das gleiche Los gefaßt während der ganzen Kindheit –, war so etwas passiert, und er war geflohen und zugleich nicht geflohen: Er war zu dem Dealer gegangen, der ihn gewöhnlich versorgte und ihm auch gelegentlich einen Auftrag gab wie den, der ihn schließlich im Knast in Palermo landen ließ, um ein Paket abzuholen; er klingelte mehrmals ohne Erfolg, es war merkwürdig, denn er hatte zuvor Bescheid gesagt, schließlich öffnete man ihm, aber der Mann war nicht da, er habe unerwartet ausgehen müssen, entnahm er mehr oder minder den Worten seiner Freundin in der Tür, der derzeitigen des Dealers, sowohl er als auch Comendador wechselten die Mädchen alle paar Wochen, nicht, daß sie etwas mitbekamen, und manchmal tauschten sie sie miteinander aus, wie soll ich sagen, um sie zu amortisieren. Die junge Frau wirkte sehr weggetreten, sie stammelte, nur mit großer Mühe erkannte sie meinen Freund (»Ach ja, ich seh dich, ich seh dich im Joy«, sagte sie) und schwankte auf das Zimmer zu, in dem ihr Partner weniger Tage das Paket gelassen hatte, damit sie es ihm in Unkenntnis seines Inhalts übergeben konnte, aber nach wenigen Sekunden und bevor sie das Zimmer erreichte, ohne daß es zwischen ihr und Comendador zu mehr als zusammenhanglosen Sätzen gekommen war (»Was ist mit dir, was hast du genommen?« fragte er sie, »Jetzt schaue ich dich an«, antwortete sie), sah er, wie sie stolperte und in zwei oder drei rasanten und durch das Stolpern unkontrollierten Schritten auf dem Flur davonschoß und frontal gegen eine Wand krachte, ein gewaltiger Aufprall (»Es klang sehr hart, wie zerbrechendes Holz«), und dann fiel das Mädchen der Länge nach bewußtlos zu Boden. Er sah an ihr sofort eine kleine Platzwunde, die junge Frau war nur mit einem langen Hemd bekleidet, das ihr bis zur Hälfte der Oberschenkel reichte und das sie sich sicher nur wegen des hartnäckigen Läutens und einer vagen Bewußtheit ihres Auftrags angezogen hatte, darunter nichts, wie Comendador im Augenblick nach dem Sturz, dem Tod, der Ohnmacht feststellen konnte. Dann sah er auch einen Blutfleck auf dem Boden, vielleicht ähnlich dem, den ich jetzt vor Augen hatte, aber frischer, er schien in der Tat von dem Mädchen zu stammen, zwischen ihren Beinen hervorzukommen, vielleicht menstruierte sie und hatte es nicht gemerkt in ihrem träumerischen, weggetretenen, womöglich narkotisierten Zustand, oder vielleicht hatte sie sich beim Fallen an etwas Spitzem oder Scharfen verletzt, etwas auf dem Boden, ein Splitter, es war unwahrscheinlich. Doch am beunruhigendsten war weder das noch die Platzwunde, sondern ihr so entrückter oder abwesender Gesichtsausdruck, gefolgt von ihrer Bewußtlosigkeit, die zugleich mit dem Aufprall eingetreten war, aber mit Sicherheit nicht auf ihn zurückzuführen war oder nicht nur, sondern auf das, was immer dieses Mädchen kurz zuvor oder vor wer weiß

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