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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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hinaus, was ich nutzlos in zehntausend Filmen gesehen habe, wie man das macht, aber ich hätte es wenigstens probieren sollen, wer weiß, ob ich sie gerettet hätte, und jetzt ist es zu spät, jede Minute, die vergeht, ist später und verdammt uns mehr, mich und dieses Mädchen, aber vor allem sie, vielleicht ist sie noch nicht tot, sondern stirbt, während ich renne oder während ich ankomme und mit den Angestellten des schicken Ladens rede und ihnen das Geschehen erzähle oder während sie Cuesta oder Navascués suchen, seinen Partner, der bestimmt einen Schlüssel der Wohnung haben wird und ihnen öffnen könnte, uns öffnen könnte, wenn ich mich entschließe, mit ihnen dorthin zurückzukehren, besser nicht, ich habe die Ware bei mir, aber währenddessen kann es sein, daß dieses unvorsichtige Mädchen stirbt, und schuld daran ist die Zeit, die ich verliere oder besser gesagt bereits verloren habe, die Zeit, die ich hätte nutzen müssen, um verzweifelt irgend etwas zu versuchen oder einen Krankenwagen zu rufen, ich hätte ihr die Schläfen, den Nacken, das Gesicht befeuchten, sie an Cognac oder Alkohol oder Kölnischwasser riechen lassen, sie zumindest vom Blut säubern können, ich bin so egoistisch und erbärmlich und feige, wie ich es schon immer gewußt habe, aber es zu wissen ist nicht dasselbe wie es vor Augen zu haben und zu sehen, daß es Folgen hat.‹ Er fegte wie ein galoppierendes Pferd in den Laden, und dort waren sie alle, der Dealer Cuesta und Navascués, sein Partner, und die Angestellten, ersterer hatte sein Handy abgestellt, er bediente ein paar Kundinnen, die erschreckt zusammenfuhren, er hatte nichts gehört, Comendador bedrängte ihn, erzählte ihm hastig, Cuesta nahm ihn mit in sein Büro im hinteren Ladenbereich, beruhigte ihn, griff zum Telefon dort, wählte seine eigene Nummer rasch, aber ohne übermäßige Besorgnis, und nach wenigen Sekunden hörte Comendador, wie er mit seiner Freundin sprach, in der Wohnung, aus der er überstürzt geflohen war, ohne den Blick zu wenden. »Was ist passiert«, hörte er ihn sagen, »Comendador sagt, du hast dich gestoßen und bist bewußtlos geworden. Aha. Da du nicht reagiert hast, wußte der Mann nicht, was er davon halten sollte. Aber hast du sie denn nicht immer bei dir? Du solltest mehr darauf achten, man sieht, daß du keine einzige auslassen darfst. Bist du sicher, daß es dir gut geht, soll ich nicht kommen? Bist du sicher? Gut. Tu Alkohol auf die Wunde, kleb dir ein Pflaster auf, gegen die Beule wirst du nichts machen können, aber die Wunde desinfizierst du besser, vergiß es nicht, ja? Gut. Gut. Ja, ja, es scheint, du hast ihm einen schönen Schrecken eingejagt, er ist bis hierher gerannt, hier steht er, völlig außer Atem. Ja, er sagt, den hast du ihm schon vor dem Schwindelanfall eingejagt, na ja, normal, daß du dich nicht erinnerst. Gut, ich werde es ihm sagen. Ich seh dich später. Küßchen.« Cuesta erklärte ihm die Sache in raschen Worten, das Mädchen hatte Diabetes, das passierte ihr manchmal, wenn sie abends zuviel trank und die Medikamente vergaß, um das Schicksal mehr herauszufordern, beides ging gewöhnlich miteinander einher, sie tat das zu oft, sie war unvernünftig, ein Kind. Sie hatte sich schon erholt, es ging ihr schon besser, sie hatte ihre Tablette genommen, wenn auch zur Unzeit, und die Platzwunde war weiter nichts, eine Beule und ein bißchen Blut. Es tue ihr sehr leid, der Kleinen, daß sie Comendador diesen Schrecken eingejagt habe, sie lasse ihn grüßen, er solle ihr verzeihen, daß sie ihm solche Unannehmlichkeiten bereitet habe, danke, daß er sich so um sie gesorgt habe, er sei ein Schatz, Comendador sei ein Schatz.
    Ich erinnerte mich an diese Geschichte, während ich ins Bad im Erdgeschoß ging, ein Paket Watte und ein Fläschchen Alkohol nahm und wieder bis nach oben auf den ersten Treppenabsatz stieg, um diesen wenig erklärlichen Fleck zu entfernen, für den ich nicht verantwortlich war, zum Glück befand er sich auf dem Holz und nicht auf dem Teppich. Comendador hatte Cuesta bei seinem raschen, hastigen Bericht im Laden nichts von den Blutflecken gesagt, die ohne Zweifel von seiner Freundin stammten, von dem auf dem Boden und dem auf dem Laken und den Flecken auf dem Hemd, und anscheinend hatte auch sie nichts davon bei dem Telefongespräch erwähnt, also hatte es keinen Sinn – oder wäre sogar indiskret, taktlos gewesen –, ihn danach zu fragen. Vielleicht schämte sich das Mädchen und tat

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