Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
wie vielen Stunden genommen hatte, vielleicht hatte sie ja einen ganzen Vormittag voller Exzesse an die vorschriftsmäßig durchgefeierte Nacht gehängt. Comendador bückte sich, richtete sie vorsichtig auf, sie war reglos, er setzte sie, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, auf das Holz, er achtete darauf, daß ihre Hinterbacken bedeckt waren, die Schöße des Hemdes waren rotgefleckt, er versuchte, sie wiederzubeleben, er sprach mit ihr, er klopfte ihr auf die Wangen, er rüttelte an ihren Schultern, er sah ihre halb geschlossenen oder eher halb offenen und doch erstarrten, verschleierten Augen ohne Blick noch Sicht, noch Leben, sie kam ihm wie eine Tote vor, und so hielt er sie in der Tat für tot, für immer und alle Zeiten tot vor seinen eigenen Augen und zu seiner alleinigen Kenntnis. Er versuchte es nicht weiter. Ihm wurde klar, daß die Wohnungstür offen geblieben war, er hörte Schritte im Treppenhaus, und als sie verklungen waren, ging er zur Eingangstür und schloß sie, kehrte in den Flur zurück, sah von dort das kleine Paket, wegen dem er gekommen war, es lag auf dem Nachttisch des angrenzenden Schlafzimmers, zu dem die junge Frau ihre schlafwandlerischen Schritte gelenkt hatte, bevor sie gestolpert und mit dem Kopf gegen eine Wand geprallt war. Das Bett des Schlafzimmers war zerwühlt, auch auf dem Laken ein Blutfleck, nicht groß, vielleicht hatte ihre Menstruation begonnen, während sie vor sich hin döste oder schon im Sterben lag, ohne zu wissen, daß es das war, sie hatte den Fluß nicht bemerkt oder es hatte ihr an Willen oder Kraft gefehlt, ihn in Bahnen zu lenken, ich weiß nicht, ob dies das passende Wort ist. Comendador stellte sich Möglichkeiten vor, aber nicht lange, sehr flüchtig, von Panik gefärbt, besser, in jedem Fall das Paket mitzunehmen, falls durch einen dummen Zufall Krankenpfleger oder Polizisten vor der Rückkehr des Dealers erscheinen sollten, dann wäre das ein übler Streich für den, wenn sie ihn hier sähen. Er überlegte nicht länger, stieg über die Beine des sitzenden, besudelten Mädchens, ging in das Schlafzimmer, griff nach der Ware und steckte sie sich in die Tasche, stieg wieder über sie hinweg und ging weiter bis zur Wohnungstür, ohne sich umzusehen. Er öffnete sie, stellte fest, daß niemand zu sehen war, schloß sie sanft hinter sich und stürzte in vier Sprüngen und drei ausholenden Schritten die Stockwerke hinab und fand sich auf der Straße wieder.
Dann floh er also und floh auch nicht, denn in genau diesem Augenblick wurde ihm klar, daß es keine Möglichkeit gab, in die Wohnung zurückzukehren oder sie zu betreten, auch wenn er es wollte, auch nicht, der jungen Frau zu helfen, wenn sie am Leben war, und so rannte er wie ein Verrückter zu einer Telefonzelle und versuchte, den Dealer auf seinem Handy zu erreichen, um ihn über das Geschehene zu informieren und sein Wissen zu teilen. Ihm antwortete die Mailbox, er hinterließ eine kurze, wirre Nachricht, er dachte, daß der Mann in seinem Laden sein konnte oder daß er zumindest dort seine Angestellten finden würde, die Comendador kannte und die etwas tun würden, der Dealer führte ein Geschäft mit teurer italienischer Mode, Markenware, eine Franchise oder wie das heißt, er engagierte sich mehr und mehr dafür, alle streben sie nach Achtbarkeit, sobald sie die Gelegenheit sehen und man sie läßt oder sie können, Gesetzesbrecher und Umstürzler, Verbrecher ebenso wie Revolutionäre, diese oft nur hinter verschlossenen Türen, sie verbergen das Bestreben, wenn sie von ihren Selbstdarstellungen leben, Comendador und ich haben einige gekannt. Comendador wußte die Telefonnummer dieses Ladens nicht, aber er war nicht weit entfernt, und so rannte er los und rannte und rannte durch die Straßen, wie er es seit der Kindheit nie mehr getan hatte oder vielleicht seit der Universität, als er bei den Demonstrationen am Ende der Franco-Zeit vor ihren immer langsameren, gut geschützten Polizisten davongelaufen war. Und während er rannte, dachte er an das zurück, was noch so unmittelbare Vergangenheit war, daß es ihn Mühe kostete zu glauben, daß es keine Gegenwart mehr war und daß er es nicht ändern konnte, und dachte: ›Ich habe nichts getan, nichts versucht, nicht einmal, mir Wissen oder Gewißheit zu verschaffen, ich habe ihr weder den Puls gefühlt noch es mit Mund-zu-Mund-Beatmung probiert, noch ihr eine Herzmassage verabreicht, ich habe nie etwas dergleichen getan noch weiß ich über das
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