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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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mit oder ohne Grund Verhafteten treffen, egal, ob es Beweise gegen ihn gab oder nicht; wenn es keine gab, wurden sie fabriziert, und selbst das war gewöhnlich nicht nötig, für seine Verurteilung reichte grundsätzlich die bloße Denunziation, die eines Hausmeisters, eines Nachbarn, eines Neiders, eines Geistlichen, eines Rachsüchtigen, eines Rivalen, eines professionellen oder dilettierenden Verräters, eines abgewiesenen Liebhabers, einer erbosten Braut, eines Kollegen, eines Freundes, sie wurden alle anerkannt, es war besser zu über- als zu untertreiben, wenn es galt, die 1936 begonnene »bittere Reue« zu vollenden, das Wort stammte von Thomas. Und dieses »Schlimmere« hieß »an die Wand«.
    Alles in allem hatte Juan Deza Glück, verglichen mit vielen anderen, seinem Verräter gelang es nicht, ihn vor die weiße Wand zu schicken. Während des Krieges war mein Vater Soldat des Volksheeres oder der Republikanischen Armee gewesen, wie er lieber sagte (er war bei Ausbruch des Krieges zweiundzwanzig Jahre alt, er war einige Monate jünger als Wheeler), doch da er in der Etappe in Madrid für Verwaltungsaufgaben eingeteilt war, verschlug es ihn zunächst zu einer Beschaffungskompagnie, dann wurde er zum Übersetzer des Heeres ernannt, und später diente er Don Julián Besteiro als Mitarbeiter oder Helfer, bis zur Kapitulation, so daß er nie in den Kampf ziehen mußte. Und da er sicher wußte, daß er sich nie gezwungen gesehen hatte, einen einzigen Schuß aus seinem Gewehr abzugeben, hatte er auch die absolute Gewißheit, niemanden getötet zu haben, worüber er sich immer unendlich gefreut habe, wie er sagte. Er schrieb seine Artikel für Abc und einige andere Publikationen, machte 1937, als er nach Valencia geschickt wurde, eine Zeitlang Radiosendungen und übersetzte im Auftrag des Generalstabs ein umfangreiches englisches Buch, an dessen Autor er sich nicht erinnern konnte, wohl aber an den Titel, Spy and Counter-Spy (A History of Modern Espionage) , das sicher niemals das spanische Licht der Welt erblickt hat, zu dem er ihm für das Kriegsministerium verholfen hatte. Doch zu den Anschuldigungen seiner Denunzianten gehörten ungleich gravierendere und – so wunderlich sie auch anmuteten – in böswilligster Absicht geplante »Vergehen«, deren Falschheit schwer zu entlarven war: unter anderem das Delikt, Mitarbeiter der Moskauer Tageszeitung Prawda gewesen zu sein, in Spanien als Verbindungsmann, Dolmetscher und Führer des »Banditen Dekan von Canterbury« fungiert zu haben (Dr. Hewlett Johnson, bekannt als »der rote Dekan« oder »the Red Dean«, den mein Vater niemals gesehen hatte) und ein sicherer Kenner des ganzen Komplotts der »roten Propaganda« für den Zeitraum des Konflikts zu sein, was einer ziemlich direkten Aufforderung gleichkam, ihm mit jedem (im übrigen üblichen) Mittel eine so außergewöhnliche Information zu entreißen. Nichts dergleichen geschah zum Glück: Er hatte wahrhaftige Zeugen, sogar unter denen »der Anklage«; er geriet wundersamerweise an einen hochanständigen Untersuchungsrichter im Leutnantsrang, der während des Ermittlungsverfahrens seine Widerlegungen nicht etwa verfälschte (wie es in jenem Rechtssystem der Gewohnheit entsprach), sondern ihm vielmehr vorschlug, sie zwecks größerer Genauigkeit schriftlich festzuhalten, und der zu ihm sagte, bevor er ihn in die Zelle zurückschickte: »Ich gebe Ihnen nicht die Hand, weil man uns sieht und denken kann, wir hätten irgendeine Beziehung, aber im Geist bin ich auf Ihrer Seite.« (»Antonio Baena«, erinnerte sich mein Vater, »diesen Namen werde ich nie vergessen«). Und er geriet auch an einen erfreulich trägen Richter, der seine Akte verkramte und angesichts des anormalen Verhaltens eines »Belastungszeugen« und der daraus folgenden Konfusion am Ende das Verfahren einstellte. Und so verbrachte Juan Deza, mein Vater, eine Zeit im Gefängnis, in der er seinen analphabetischen Mitgefangenen Lesen und Schreiben, Addieren, Subtrahieren und Multiplizieren (und den Gebildeteren einige Grundkenntnisse in Französisch) beibrachte, und dann kam er frei – ohne ihnen das Dividieren beigebracht zu haben –, wenn auch, um jahrelang unter Repressalien zu leiden und natürlich daran gehindert zu sein, irgend etwas auf welcher Stufe auch immer zu lehren, im Unterschied zu seinen auf ihren Lehrstühlen sitzenden Anklägern, oder eine Zeile in der Presse seines Landes zu veröffentlichen, deren Schrift nunmehr gänzlich blau

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