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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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war. Einer der »Belastungszeugen«, der sich sehr wohl im dunklen Spiegel seines Tuns widerspiegelte, ebenfalls ein ehemaliger Kommilitone, den sein Opfer unter den Bombardierungen besucht und mit Büchern versorgt hatte, später ein Romancier mit billigem oder würdelos errungenem Erfolg (Flórez sein Name), ließ ihm über seine Freundin, meine Mutter, folgende Nachricht zukommen: »Wenn Deza sich nicht daran erinnert, daß er eine berufliche Laufbahn hat, kann er leben; andernfalls werden wir ihn zugrunde richten.« Aber das ist eine andere Geschichte. Bisweilen sah ich, wie er still an seiner unglücklichen Situation litt, und ich sah, daß es ihm schlecht dabei erging. Aber ich sah ihn nie verbittert, uns Kindern vermittelte er nie das geringste Ressentiment, was wir davon haben mögen, das haben wir selbst genährt. Ich habe auch nicht gehört, daß er geklagt oder außerhalb des Familien- und Bekanntenkreises laut die Namen seiner Verräter genannt hätte, die – besagte zwei Namen – einigen von ihnen bereits seit dem Tag von San Isidro 1939 gut und aus allererster Hand bekannt waren. Trotz aller Hemmnisse und Hindernisse kam er gut mit dem Leben zurecht, und wenn er nicht einmal in den härtesten und widrigsten Jahren klagte, dann kam es nicht mir zu, es für ihn zu tun. Oder vielleicht doch. Vielleicht doch mir und nur mir, zusammen mit meinen beiden älteren Brüdern und meiner jüngeren Schwester, etwas zu tun, an dem nichts Beleidigendes ist, ein wenig für andere zu klagen, für meine Mutter jetzt und auch für ihn.
    So hatte ich es mir niemals versagt, diese beiden Namen zu erwähnen, wenn es sich anbot oder gelegen kam, denn von Kind an kannte ich sie, Del Real und Santa Olalla, Santa Olalla und Del Real, für mich waren sie immer die Namen des Verrats gewesen, und die müssen nie geschützt werden. Daran dachte ich, während ich in der langen Nacht am Cherwell begann, endlich alle Bücher von Wheeler einzusammeln, die ich aus ihrem Westregal genommen und in seinem Büro oder Arbeitszimmer verstreut hatte, und mehr schlecht als recht Ordnung zu schaffen und den Tisch zu säubern und abzuräumen und Pralinenpackungen und Flaschen und mein Glas und das Eis hinauszutragen, das Ganze eine mühselige Arbeit für meine Müdigkeit und Selbstversunkenheit und die späte Stunde, wenn ich auch lieber nicht wissen wollte, wie spät sie war, und auf keine Uhr schaute. Wie war es möglich, daß mein Vater nichts geahnt oder gemerkt hatte? Er war ein intelligenter, gebildeter Mann, kein Dummkopf, und lange vor der Zeit gereift, wenn auch natürlich ein unerlöster Optimist, der grundsätzlich jedem vertraute. Und trotzdem. Wie konnte man ein halbes Leben mit einem Gefährten, einem engen Freund – ein halbes Leben der Kindheit, der Schule, der Jugend – verbringen, ohne sein Wesen oder zumindest sein mögliches Wesen zu erkennen? (Aber womöglich ist bei allen jegliches Wesen möglich.) Wie kann man im Lauf der langen Zeit nicht sehen, daß derjenige, der uns ruiniert haben wird und schon ruiniert, uns ruinieren wird? Wie nicht sein abgekartetes Spiel erahnen oder erraten, seine Intrige und seinen Tanz im Kreis, nicht seinen Haß riechen oder sein Unglück spüren, nicht sein mähliches Belauern und sein langes, ermattendes Warten und die daraus folgende Ungeduld, die er wer weiß wie viele Jahre hat beherrschen müssen? Wie ist es möglich, daß ich heute nicht dein Gesicht morgen kenne, das schon da ist oder hinter dem entsteht, das du zeigst, oder hinter der Maske, die du trägst, und das du mir erst dann vorführen wirst, wenn ich es nicht erwarte? Bestimmt mußte dieser Mann oft seine Erregung dämpfen und sich auf die Zunge beißen, bis Blut kam, und dieses Blut erkalten lassen, wenn es längst in seinen Adern kochte, und das Ende seines mißlungenen, übelriechenden Gärungsprozesses vertagen, um es dann abermals zu vertagen. All das bemerkt man, gewahrt man, wittert man, und gelegentlich ist es sogar handgreiflich, der Schweißgeruch dringt bis zu uns, und die Kondensierung betäubt uns. Zumindest ahnt man es. In Wirklichkeit weiß man es oder müßte es wissen. Oder wird uns etwa nicht klar, wenn die Dinge erst einmal geschehen, daß wir wußten, daß sie geschehen würden und so und nicht anders vor sich gehen mußten? Und stimmt es nicht, daß sie uns im Grunde nicht so verwundern, wie wir vor den anderen und vor allem vor uns selbst vorgeben, und daß wir dann die ganze Logik sehen und die

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