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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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weil ihn die bloße Erinnerung schmerzte, vielleicht, um sich nicht zu bitteren Äußerungen verleiten zu lassen, oder auch, um demjenigen keine Bedeutung zu geben – nicht einmal durch sein Erzählen –, für den er seit jenem Tag von San Isidro 1939, wenn nicht schon ein wenig früher, nur Verachtung empfand.
    »Aber hast du denn nie irgendwas geahnt?« hatte ich ihn einmal gefragt und dabei ausgenutzt, daß er sich an andere Ereignisse jener Zeit erinnerte.
    »Vor meiner Festnahme? Na ja, doch, natürlich, ich hatte von der Verleumdungskampagne gehört, die er in Gang gesetzt hatte. Auf indirekte Weise, die Nachrichten kamen aus der nationalen Zone, in die er übergewechselt war, ohne jemandem von uns etwas zu sagen, wir haben nie genau gewußt, wann oder wie (es war nicht leicht, aus Madrid herauszukommen, ohne Hilfe von draußen fast unmöglich); spät natürlich, tatsächlich bekamen wir erst dann mit, daß er übergewechselt war. Ich weiß nicht: Weil er vorausgesehen hatte, daß die Niederlage kurz bevorstand, nehme ich an, und schon mal Position bezog. Nicht, daß ich nicht gemerkt hätte, wie gefährlich das war, und welche Folgen das haben konnte. Wer viele Jahre lang dein Freund gewesen ist, spricht mit einer Autorität, die das reine Gift ist, wenn er sie gegen dich wendet. Die Leute denken, der weiß Bescheid, der weiß, was er sagt. Obwohl überführen in jenen Tagen, ehrlich gesagt, nicht unbedingt erforderlich war, auch nicht überzeugen. Es genügte ein wenig Emphase und Nachdruck, und nicht einmal das war absolut notwendig.«
    »Ich meine davor, bevor du von seinen Verleumdungen gehört hattest. Hast du nie irgendwas geargwöhnt, ging dir nicht durch den Kopf, daß er gegen dich vorgehen könnte, daß er es auf dich abgesehen hatte, daß er versuchte, dich zu ruinieren?«
    Mein Vater hatte einen Moment lang geschwiegen, aber nicht wie jemand, der zögert und über eine Antwort nachdenkt, um nicht ungenau zu sein; es war vielmehr eine Pause, wie sie jemand macht, der damit eine Wahrheit oder eine Gewißheit unterstreichen will.
    »Nein. Ich habe nie an so etwas gedacht. Als ich es erfuhr, habe ich es am Anfang nicht geglaubt, ich hielt es für einen Irrtum oder ein Mißverständnis oder eine Lüge von anderen, deren Zweck sich meiner Kenntnis entzog. Eine Intrige. Einen Akt, um Zwietracht zu säen. Später, als die Sache über zu viele Kanäle zu mir gelangte und ich sie nicht länger ignorieren konnte und glauben und mich damit abfinden mußte, erschien sie mir unbegreiflich, unverständlich.«
    Das war das Wort, das er immer benutzte, »unbegreiflich«, ich meine, die wenigen Male, die ich gewagt hatte, ihn dazu zu bringen, mehr davon zu erzählen.
    »Aber in den vielen Jahren eures Kontaktes«, hatte ich insistiert, »hat es da für dich nie das geringste Zeichen gegeben, keinen Argwohn, keine innere Warnung, keinen Stich, kein Vorgefühl, irgend etwas?«
    »Nichts«, hatte er geantwortet, immer einsilbiger und düsterer, und dann wechselte ich das Thema, um ihn nicht auszulöschen. Ich vermute, daß es ihn bitter ankam, sich an seine Naivität oder Gutgläubigkeit zu erinnern, nicht so sehr, sie gehabt zu haben, als nicht imstande gewesen zu sein, sie zu bewahren. Oder das glaubte er vermutlich. Denn in Wirklichkeit bewahrte er sie, sogar zu sehr, nach meiner Meinung (sie brachte ihm noch manche Mißhelligkeit ein, aber keine so bittere mehr und mit dem Unterschied, daß sie ihn nur noch halbwegs überraschten), ich bin zynischer und mißtrauischer gewesen, glaube ich, wenn auch womöglich nicht genug für die heutigen treulosen Zeiten. Vielleicht habe ich mit beiden Beinen fester auf dem Boden gestanden und bin pessimistischer gewesen, das ist alles, und auch getrübter.

M eine Mutter war gestorben, als ich zu jung war, um mir über diese Dinge nachdenkliche Fragen zu stellen, und so konnte ich sie als wirklich Erwachsener (das heißt, mit dem Bewußtsein, es zu sein) nicht mehr fragen; vielleicht hätte sie, die mit beiden Beinen schon immer fester auf dem Boden stand, wenigstens eine mögliche Erklärung gewagt; sie war mit dem Verräter nicht so befreundet gewesen wie mein Vater, aber sie hatte ihn natürlich gekannt. Sie hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Juan Deza aus dem Gefängnis zu holen, obwohl sie damals noch kein Liebespaar waren, nur ehemalige, unzertrennliche Kommilitonen. Sie hatte auch manches während des Krieges getan, soviel ich wußte, um hier und dort zu helfen

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