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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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viel erfolgreicher Verrat, der vor seinem Vollzug weder geahnt noch aufgedeckt worden war? Was für eine sonderbare Neigung zum Vertrauen haben wir? Oder vielleicht ist es nicht die Neigung dazu, sondern die Neigung, nicht sehen noch wissen zu wollen, oder die Neigung zum Optimismus oder zur bewußten Selbsttäuschung, oder es ist Hochmut, der uns veranlaßt zu glauben, daß uns nicht passieren wird, was unseresgleichen sehr wohl passiert, was ihnen immer widerfahren ist, oder daß wir verschont werden von denen, die – noch dazu vor unseren eigenen Augen – längst Verrat an anderen begangen haben, als wären wir anders als diese, der Hochmut, der uns grundlos annehmen läßt, wir seien gefeit gegen die Niederlagen, die unsere Ahnen erlitten haben, und sogar gegen die Enttäuschungen, die unsere Zeitgenossen erleben: all jene, die nicht »ich« sind, nehme ich an, alle, die es nicht sind noch sein werden, noch waren. Wir leben, nehme ich an, mit der uneingestandenen Hoffnung, daß irgendwann die Regeln und der Lauf und die Gewohnheit und die Geschichte durchbrochen werden und zwar für uns, für unsere Erfahrung, daß wir es sind – das heißt, nur ich –, die es erleben dürfen. Wir streben immer danach, nehme ich an, Erwählte zu sein, wahrscheinlich wären wir sonst nicht besonders bereit, die ganze Bahn eines ganzen Lebens zu durchlaufen, das, ob kurz oder lang, uns allmählich besiegt. Hier, im Doppelten Tagebuch , nach dem ich wieder griff, gab es einige Artikel meines Vaters aus der Zeit, als er noch vertraute, obwohl er im Krieg war: einer vom 2. Juli 1937 aus Anlaß des dreihundertsten Jahrestags des Erscheinens von Descartes’ Discours de la Méthode 1637 in Leyden; ein anderer vom 27. Mai, in dem er die irrwitzigen Veränderungen bei den Namen von Straßen und Plätzen (und sogar von Städten) beklagt, die sowohl in der »von den Aufständischen beherrschten Zone« wie in der »regierungstreuen« (seine Worte), in diesem Fall in Madrid, durchgeführt wurden: »Es ist in jeder Hinsicht beklagenswert«, schrieb er, »daß wir darin die Aufständischen nachahmen, denn man darf sie in gar nichts nachahmen.« Oder: »Dem Prado, dem Paseo de Recoletos und der Castellana hat man den dreifachen Namen genommen und durch die Benennung Allee der proletarischen Einheit ersetzt. Diese Einheit nimmt leider keine Gestalt an, und es erscheint uns ungleich interessanter, sie herzustellen, als sie an die Häuserecken zu schreiben … In gewissem Sinne scheinen die neuen Schilder das Werk der aufständischen Bombardierungen vollenden zu wollen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, unsere Hauptstadt zu entstellen.« Und es gab auch den einen oder anderen strikt politischen Artikel, entweder unterzeichnet mit seinem damaligen Pseudonym oder mit seinem Namen, Juan Deza, es wirkte gespenstisch auf mich, meinen Namen auf diesen alten, rot wiedergegebenen Seiten zu sehen. Da waren seine jugendlichen Texte, die zweifellos zu den zahlreichen – zumeist erfundenen, imaginären, falschen – Anschuldigungen gehörten, denen er sich ausgesetzt sah, kurz nachdem der Krieg beendet und verloren war, als ihn sein damaliger bester Freund verriet und bei den siegreichen aufständischen Behörden anschwärzte, ein gewisser Del Real, mit dem er Vorlesungssäle und Gespräche, Interessen und Cafés und Freundschaften und lose Zusammenkünfte und Kinogänge und sicher die eine oder andere durchfeierte Nacht im Lauf der Jahre geteilt hatte, all der Jahre ihres gemeinsamen Studiums und vermutlich auch des Krieges selbst und der Belagerung von Madrid mitsamt den entstellenden Bombardierungen der Aufständischen und ihren Kanonenschüssen, die aus der Umgebung und von den Anhöhen kamen, die sogenannten Mörsergranaten, die ihre parabolische Bahn zogen und auf das Gebäude der Telefongesellschaft oder den Platz daneben fielen, wenn sie ihr Ziel verfehlten, der deshalb »Oweh-Platz« genannt wurde mit unwahrscheinlich anmutendem fatalistischem Humor, fast drei Jahre im Leben beider, aller, belagert und durch Straßen und über Plätze mit wechselnden Namen hastend, mit den Händen die Hüte, Kappen und Mützen und die wehenden Röcke und die zerrissenen Strümpfe festhaltend oder einfach ohne Strümpfe, auf der Suche nach Bürgersteigen, die nicht im Zielbereich der Kanonen lagen, um auf ihnen bis zu einem Metroeingang oder irgendeinem anderen Refugium zu gehen oder zu rennen.
    Die beiden Freunde hatten sogar zusammen mit einem

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