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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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unbeachteten Hinweise erkennen und sogar erinnern, die irgendeine Schicht unseres Bewußtseins sehr wohl beachtet hat? Vielleicht wollen wir uns von unserer eigenen Bestürzung überzeugen, so als fänden wir in ihr unpassenden Trost und vergebliche Rechtfertigungen, die in Wahrheit nichts nützen: ›Ach, ich wußte nicht, wie konnte ich mir vorstellen oder gar ahnen, das ist das letzte, was ich erwartet hätte, nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, ich hätte mein Wort gegeben, ich hätte geschworen, ich hätte meine Hand ins Feuer gelegt, ich hätte meinen Hals riskiert, ich hätte mein Vermögen dafür gewettet und meine Ehre aufs Spiel gesetzt, was für eine Täuschung, was für eine Enttäuschung, wie unglaublich und unwirklich erscheint dieser Verrat.‹ Doch diese Bestürzung gibt es fast nie. Nicht im tiefsten Grund, nicht im Wissen, das sich nicht zu äußern oder auszusprechen oder überhaupt zu wissen oder von sich selbst zu wissen oder seiner selbst bewußt zu sein wagt, nicht in dem, das sich so fürchtet, daß es sich haßt und verleugnet und verhehlt und verscheucht oder nur aus dem Augenwinkel ansieht und mit stets verhülltem Gesicht. Aber es gibt sie in unseren obersten Schichten, die nicht nur die oberflächlichen und äußerlichen sind, sondern in Wirklichkeit alle, auch die mittleren und die tiefen und ganz tiefen und sogar die verborgenen und untergründigen und die geäderten, die äußeren und die inneren und die tiefinneren, die des täglichen, nach außen gewandten Lebens der Lanzenspitze und die unseres einsamen Innehaltens, die der heiteren Gesellschaft und die des abgründigen Beginns des Traums, wenn wir einen Augenblick lang flüchtig erkennen, was wir in unserer Ganzheit werden und welche Geschichte einmal erzählt werden wird, wenn unsere Vollendung vollendet ist. Ja, sogar diese Schicht der Kapitulation und der Angst oder der Vorahnung läßt diese Bestürzung, dieses Überraschtsein zu. Aber nicht die tiefste, die wir fast nie erreichen, die auf der Rückseite der Zeit siedelt und sich nicht täuscht oder irrt, die mit Angst verwechselt wird oder sich deren Maske anzieht, die der Angst, und deshalb hören wir nicht auf sie, damit die Furcht uns nicht beherrsche und unsere Schritte diktiere und uns dazu führe, dem Gefürchteten zu erliegen oder es zu begünstigen. Wir verwerfen Hinweise und weigern uns, so viele Zeichen zu deuten (›Schweig, schweig, und rette mich so‹), wir verbannen sie und werfen sie in den Abfalleimer der Einbildungen, um ihnen andere entgegenzusetzen, von denen wir im Grunde wissen, daß sie keine Zeichen, sondern Vorspiegelungen und Trugbilder sind, die unser Vertrauen suchen und unsere Benommenheit oder Schläfrigkeit (›Halt ein Auge offen, wenn du schlummerst, halt es offen‹, zitierte ich für mich). Denn in Wirklichkeit könnten wir uns unmöglich täuschen, wenn wir es so haben wollten – uns nicht zu täuschen –, es wäre ein nichtiges Unterfangen, ein zum Scheitern verurteiltes Bemühen. Aber das wollen wir gewöhnlich nicht. Wir wollen es gewöhnlich nicht so haben: uns langweilen Schutz und Vorbeugung und Wachsamkeit, wir alle werfen gern den Schild weit von uns und marschieren leichtfüßig und schwingen die Lanze wie einen Zierstock.
    Als bereits Erwachsener hatte ich meinen Vater gefragt, wenn auch ohne allzusehr zu beharren. In unserer Kindheit und Jugend hatten meine Mutter und er meinen Geschwistern und mir die Geschichte erzählt, aber nur ihr Skelett, ein Minimum, als wollten sie uns noch nicht näher mit dem bekannt machen, was alle in mehr oder weniger großem Ausmaß erwartet und tatsächlich bereits in der Kindheit beginnt – Petzerei, Zuträgerei, Verrat, Dolchstoß, Anklage, Täuschung, Denunziation, Verkauf –, obwohl uns in jener Zeit unweigerlich und durch verschiedene Kanäle das Urbild oder der casus maximus erreichte, von dem die Evangelien berichten, andere, ältere, die von Jakob und David, Absalom, Adonai, die von Dalila und Judith und sogar der des wenig geliebten Kain hatten einen Zweck und einen Grund, deshalb war ihr jeweiliger Verrat weniger lauter und uneigennützig, eher zu erwarten und begreiflich, weniger unmotiviert und weniger schwerwiegend (die berühmten dreißig Silberlinge waren nie der Grund, sondern nur eine Verkleidung und ein greifbares Symbol, in dem sich die Tat verkörpern und darstellen ließ). Aber nie hatte Juan Deza gern ausführlich über diese Angelegenheit gesprochen, vielleicht,

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