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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Javier Marías
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sorgfältig gefaltet waren, damit sie alle Platz fanden (darunter ein naives Straßenpoem auf Madrid, gekrönt von der Fahne der Republik mit ihrem dunkelvioletten Farbstreifen, was für ein Risiko war meine Mutter eingegangen, als sie es während der ewigen Franco-Zeit aufbewahrte), war mein erster Impuls, es nicht anzuschauen, das Foto, und nicht bei etwas zu verweilen, das ich wie einen Lichtblitz oder wie einen Blutfleck gesehen und schon beim Auseinanderfalten des Stoffes erkannt hatte, ich hatte es sofort erkannt, obwohl ich es nie gesehen hatte und das ferne, tödliche Geschehen in diesem Moment wer weiß wie tief in meiner Erinnerung vergraben lag. Mein Impuls war, es wieder mit dem Fetzen Atlas zu bedecken, als wollte ich das Gesicht eines Leichnams vor jedem lebenden Auge schützen, oder als wäre mir plötzlich zu Bewußtsein gekommen, daß man nicht verantwortlich ist für das, was man sieht, wohl aber für das, was man anschaut, daß man letzteres immer verweigern – wählen – kann nach dem ersten unvermeidbaren Anblick, der wie ein Überfall ist, unfreiwillig, flüchtig, der überraschend gekommen ist, man kann sofort die Augen schließen oder sie mit der Hand bedecken oder das Gesicht wenden oder sich entscheiden, rasch eine Seite umzublättern, ohne sich mit ihr aufzuhalten. (›Blättere um, blättere um, ich will nicht dein Entsetzen noch dein Leid. Blättere um, und rette dich so.‹)
     
     
     
    Bis ich mit pochendem Herzen nachdachte, und dann dachte ich, daß meine Mutter das Foto der abscheulichen Tat gewiß nicht deshalb erbeten und mitgenommen und ihr ganzes Leben aufbewahrt hatte, um irgendeinem krankhaften Gefühl nachzuhängen oder irgendein Ressentiment zu pflegen, das zwangsläufig konkreter Adressaten entbehrt hätte, denn nichts von alldem paßte zu ihrem Charakter. Sondern wahrscheinlich, um sich jedesmal vergewissern zu können, wenn es ihr unmöglich und wie ein Traum erschien, daß ihr Bruder Alfonso auf so schäbige Art ums Leben gekommen war und nicht mehr nach Hause kommen würde, weder am Abend ihrer Runden durch Straßen und Polizeireviere und Verhörzentren noch an irgendeinem anderen. Und damit das Irreale, das am Ende die nicht vorübergehenden Verluste umgibt, sich ihrer nächtlichen Phantasien nicht ganz und gar bemächtigte. Und vielleicht auch weil sie, wenn sie das Foto in jenem Register verwalteter Todesfälle zurückgelassen hätte, das Gefühl gehabt hätte, den Körper, den sie nie sehen konnte und von dem sie nicht wußte, wo er ruhte, unter freiem Himmel zurückzulassen, ohne ihn zu begraben. Und ich verstehe, daß sie es auch später nicht vernichtet hat, wenn ich auch überzeugt bin, daß sie es niemals wieder angeschaut hat und es sicher deshalb eingewickelt in den roten und schwarzen Stoffetzen aufbewahrte, um sich nicht einmal der Gefahr auszusetzen, es zu Gesicht zu bekommen, wie eine Warnung oder ein abschreckendes Zeichen, das ihr sagte: »Denk daran, daß ich da bin. Denk daran, daß ich noch bin, und daß deshalb sicher ist, daß ich gewesen bin. Denk daran, daß du mich sehen könntest und daß du mich gesehen hast.« Und ich bin mir so gut wie sicher, daß sie es nie gezeigt hat, dieses Foto, das glaube ich nicht. Natürlich nicht ihren Eltern, nicht ihrer zarten und immer ängstlichen Mutter, die stets überfordert war von den zahlreichen Kindern und den ständigen Ansprüchen des Ehemanns, des Vaters, der sie so sehr für sich wollte, daß er sie fast gefangenhielt; und nicht ihm, nicht diesem so sympathischen wie autoritären Vater, einem gebürtigen Franzosen, durch dessen Schuld mein wahrer Name nicht Jacobo oder Jaime oder Santiago oder Diego oder Yago ist, die alle ein und derselbe sind, sondern Jacques, der es ebenfalls ist in seiner französischen Form und bei dem nur sie mich im Leben gerufen hat, meine Mutter, abgesehen von Pariser Freunden und wenn ich nicht noch jemanden vergesse. Nein, bestimmt hat sie es ihnen nicht gezeigt, obwohl es zwangsläufig ihr zukam, ihnen die Nachricht zu überbringen und über ihre Entdeckung zu berichten, auch nicht den Geschwistern, die alle jünger waren und leicht zu beeindrucken, und der einzige, für den letzteres nicht galt, der älteste der Jungen, der im Alter hinter ihr kam, lebte in der Stadt versteckt und wechselte ständig die Wohnung in der Erwartung, in irgendeiner neutralen oder nicht offiziell übergewechselten Botschaft Zuflucht suchen zu können. Vielleicht hatte sie es nur meinem

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