Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
gefragt, ob er meine Tätigkeit während des Krieges kannte, und als er die Frage bejahte, luden sie ihn als Zeugen der Anklage vor. Aber als er beim Verfahren befragt wurde, leugnete er nicht nur sämtliche falschen Anschuldigungen, die man gegen mich erhob, sondern äußerte sich überdies sehr positiv über mich. Der Richter im Hauptmannsrang wurde nervös, seine Aussage brachte ihn aus der Fassung, und er fuhr ihn an: ›Wissen Sie eigentlich, daß Sie als Zeuge der Anklage vorgeladen wurden?‹ Worauf Lissarrague antwortete: ›Ich glaubte, ich sei vorgeladen worden, um die Wahrheit zu sagen.‹ Und dann fragte ihn der entgeisterte Richter, worauf dann die schwerwiegenden Anschuldigungen zurückzuführen seien, die man gegen mich vorgebracht habe, wenn das, was er sagte, wahr sei. Und Lissarrague antwortete knapp und ohne zu zögern: ›Neid.‹ Du siehst also, er und andere haben es so gesehen und nicht weiter über die Sache nachgedacht. Ich dagegen bin mir nicht sicher, daß die Erklärung so einfach ist.«
»Das spricht doch für mich«, sagte ich sogleich, daran anknüpfend. »Ein Grund mehr, um dir Fragen zu stellen, oder? Wenn dir die einfachste Erklärung, die außer dir alle gelten ließen, nicht genügte.«
»Nein, sie genügte mir nicht«, hatte mein Vater erwidert, und in seinen Worten lag ein Anflug von intellektuellem Stolz. »Aber das heißt nicht, daß ich die komplexe Erklärung gefunden oder sie mich so sehr interessiert hätte, daß ich bereit gewesen wäre, meine Zeit darauf zu verwenden oder erneut das Wort an diesen Mann zu richten, ich wollte keine Rechenschaft mehr von ihm verlangen. Es gibt Menschen, deren Beweggründe kein Nachforschen verdienen, obwohl sie sie dazu getrieben haben, schreckliche Taten zu begehen, oder gerade deshalb. Ich weiß, das geht völlig gegen die heutige Tendenz. Heutzutage fragt sich jeder, was einen Serien- oder Massenmörder dazu bringt, massiv oder serienweise zu morden, einen Sammler von Vergewaltigungen dazu, seine Sammlung ständig zu erweitern, einen Terroristen dazu, alle Leben im Namen irgendeiner primitiven Sache zu mißachten und eine größtmögliche Anzahl davon zu vernichten, einen Tyrannen dazu, grenzenlos zu tyrannisieren, einen Folterer dazu, grenzenlos zu foltern, ob er es nun bürokratisch tut oder sadistisch. Es herrscht ein obsessives Interesse daran, das Abscheuliche zu begreifen, im Grunde ist es eine krankhafte Faszination, und den Abscheulichen tut man damit einen riesigen Gefallen. Ich teile sie nicht, diese unendliche Neugier unserer Zeit für das, was in keinem Fall Rechtfertigung besitzt, auch wenn man tausend verschiedene Erklärungen dafür findet, psychologische, soziologische, biographische, religiöse, historische, kulturelle, patriotische, politische, idiosynkratische, ökonomische, anthropologische, egal welche. Ich kann meine Zeit nicht mit Nachforschungen über das Böse und das Schädliche vertun, sie besitzen allenfalls mäßige Bedeutung und oft überhaupt keine, das versichere ich dir, ich habe viel davon gesehen. Das Böse ist gewöhnlich einfach, wenn auch bisweilen nicht so einfach, wenn du imstande bist, die Nuance zu verstehen. Es gibt jedoch Nachforschungen, die abfärben, und sogar welche, die infizieren, ohne etwas Wertvolles dafür zu geben. Heute findet man Gefallen daran, sich dem Niedrigsten und Gemeinsten, dem Monströsen und Abwegigen auszusetzen, sich dem Unmenschlichen anzunähern, um es zu betrachten und mit ihm in Berührung zu kommen, als besäße es Prestige oder Reiz und größere Tragweite als die hunderttausend Konflikte, die uns zu schaffen machen, ohne in diese Extreme zu verfallen. Es liegt etwas Überhebliches in dieser Haltung, auch etwas mehr: Man geht dem Anomalen, dem Abstoßenden, dem Schäbigen auf den Grund, als wäre unsere Norm Respekt und Großmut und Redlichkeit und als müßte man mikroskopisch genau analysieren, was sich außerhalb von ihr befindet, als gehörten böser Wille und Verrat, Haß und Übelwollen nicht zu dieser Norm und wären außergewöhnliche Dinge und verdienten daher unsere ganze Sorge und unsere höchste Aufmerksamkeit. Und so ist es nicht. All das gehört zur Norm und ist nicht besonders mysteriös, nicht mehr als der gute Wille. Aber diese Zeit befaßt sich mit der Dummheit, mit dem Vordergründigen und Überflüssigen, und deshalb geht es uns, wie es uns geht. Es müßte sich eher umgekehrt verhalten: Es gibt so abscheuliche oder so verachtenswerte Taten,
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