Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
jener Wohnung, in jenen Laken, die es nicht mehr gibt, weil sie zerrissen wurden, um Streifen oder Tücher daraus zu machen, bevor sie alt und fadenscheinig wären, auf jenem Kissen. Ich bin nur ein Schatten, eine Spur, oder nicht einmal das. Ein stimmloses Flüstern, ein verflogener Geruch und gesunkenes Fieber, ein Kratzer ohne Schorf, der schon vor Zeiten abgefallen ist. Ich bin wie die Erde unter dem Gras oder noch tiefer, wie die unsichtbare Erde unter der schon abgesunkenen Erde, ein Toter, um den es keine Trauer gab, denn er hinterließ keinen Leichnam, ein Gespenst, dessen Fleisch verscheucht wird, und nur ein Name für diejenigen, die später kommen, die nicht wissen werden, ob er erfunden ist. Ich werde der Rand eines Fleckes sein, der sich vergeblich wehrt, zu verschwinden, denn er wird sorgfältig abgekratzt und abgewischt auf dem Holz und gründlich entfernt; oder wie die Blutspur, die mit viel Mühe gelöscht wird, aber schließlich verschwindet und sich verliert, und so gab es nie eine Spur noch wurde das Blut vergossen. Ich bin wie Schnee auf den Schultern, glatt und sanft, und der Schnee hört immer auf. Weiter nichts. Oder doch: »Laß es sich in nichts verwandeln, und das, was war, soll nicht gewesen sein.« Ich werde sein, was war und nicht gewesen ist. Das heißt, ich werde Zeit sein, etwas, das niemals gesehen wurde und niemand jemals sehen kann.‹
IV TRAUM
D avon abgesehen scheint mir, daß die Zeit die einzige Dimension ist, in der die Lebenden und die Toten miteinander sprechen und kommunizieren können, die einzige, die ihnen gemeinsam ist«, so lautete, wie ich später in Madrid feststellte, das genaue Zitat, das ich so ähnlich vor Wheeler in seinem Garten am Fluß gemurmelt hatte, kurz nachdem er gesagt hatte: »Sprechen, die Sprache ist das, was alle teilen, sogar die Opfer mit ihren Henkern, die Herren mit ihren Sklaven und die Menschen mit ihren Göttern. Die einzigen, die es nicht teilen, Jacobo, sind die Lebenden mit den Toten.« Ich hatte es niemals richtig verstanden, dieses Zitat, und Wheeler, der es vielleicht gekonnt hätte mit seinem größeren Wissen, hatte mir nicht zugehört oder wollte mich nicht beachten oder hatte diese Sätze für meine eigenen gehalten und geringgeschätzt, sie stammten nicht von mir, sondern von jemand anderem, der mehr Respekt verdiente, sie stammten von einem Toten, der sie als Lebender gesprochen hatte, er hatte sie 1967 geschrieben und war 1993 gestorben, aber jetzt war er so tot wie der Dichter Marlowe, obwohl dieser ihm im Tod um genau vierhundert Jahre voraus war, er wurde 1593 erstochen, dieser Schustersohn aus Canterbury (der Stadt des Banditen Dekan Hewlett Johnson, absonderliche und indirekte Ursache dafür, daß man meinen Vater lange vor meiner Geburt hätte erschießen können), der am Bene’t’s College in Cambridge studiert hatte, just in diesem, später Corpus Christi genannt. Vielleicht stellt das Nichtsprechen größere Gleichheit her, vielleicht ebnet das endgültige Schweigen sofort ein und macht gleich und verbindet mit starkem, unbekanntem Band die schon seit allen Zeiten Schweigenden, den ersten und den letzten, der sogleich der vorletzte sein wird, und die ganze Zeit komprimiert sich, sie teilt und unterscheidet und entfernt sich nicht, weil sie keine Bedeutung mehr hat, sobald sie zu Ende ist – für jeden die seine zu Ende ist –, so sehr auch diejenigen, die bleiben, sie weiter berechnen, die eigene und auch die der Abwesenheit der Fortgegangenen, so als könnten diese ihren Fortgang eines Tages rückgängig machen und nicht mehr abwesend sein. »Meine Mutter ist vor sechsundzwanzig Jahren gestorben«, sagen wir, oder: »Es ist bald ein Jahr her, daß dein Sohn gestorben ist.«
Davon sprach mehr oder weniger der Verfasser dieser Zeilen, als er sie schrieb, es war ein Landsmann von mir, mehr noch, ein Mann aus meiner von so vielen gehaßten Stadt, der außerdem ihre Belagerung erlebt hatte, ein Madrilene. Einmal besuchte er auf einer Reise nach Lissabon den schattigen Friedhof Os Prazeres mit seinen von Reihen winziger Ehrentempel gesäumten Alleen, eine märchenhafte Miniaturwelt mit seltsamen niedrigen, grauen Häuschen, spitzgieblig und mit Ornamenten versehen, stumm, sauber und verschlossen – bewohnt und nicht bewohnt –, und betrachtete immer wieder die kleinen Räume, die man zum Teil im Innern vieler dieser Grabmäler durch eine Glastür sehen kann, darin »einige Stühle oder zwei kleine gepolsterte
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