Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
oder Anstifter und Opfer, im Wissen darum, daß die gegenwärtige Zeit, wenn man sie so nennen kann, und das tue ich schon seit einer Weile, zu lange wäre, unerträglich lange, um das, was nicht war, wie es war, geglaubt erscheinen zu lassen.
M ir blieb nur die Zeit, ihm mit einem Satz oder zwei zu antworten, mir blieb Zeit, zu lächeln und von einer Spur Mitleid durchzuckt zu werden, auch dafür, an seinen Äußerungen über die hieratischen, spitzen Züge, die das Bottox in einigen Gesichtern von Diven oder Irdischen hinterließ, eine amüsante Note zu entdecken und den Gedanken zuzulassen, daß es unerwartete Risse in De la Garzas globaler Einfalt gab; und sogar dafür, plötzlich mehr von ihm hören zu wollen, mehr Geschwätz und mehr Albernheiten und mehr witzige Vergleiche, und auch, um mich rasch zu fragen, ob mir mit ihm nicht etwas (entfernt) Ähnliches passierte wie Tupra mit mir: Ich amüsierte ihn, er fühlte sich wohl bei unseren Sitzungen, wenn wir spekulierten und examinierten, bei unseren Gesprächen oder auch nur, wenn er mir zuhörte (»Was noch«, bedrängte er mich. »Was fällt dir noch ein. Sag mir, was du denkst und was du noch gesehen hast«).
All das dauerte nur kurz oder geschah gleichzeitig, und deshalb blieb mir Zeit für alles oder aber ich gewann sie zurück und rekapitulierte sie später, in der Pause des Halbschlafes oder der Fortdauer meiner Unruhe, schon im Bett, als jene so lange und irrige und unangenehme Nacht zu Ende war. De la Garza hatte mich auf seine Weise über jenes einst giftige und möglicherweise jetzt unschädliche Produkt aufgeklärt und ein paar komische Unverschämtheiten über die Benutzerinnen oder Süchtigen mit ihrem irren Gesichtsausdruck von sich gegeben, das letzte, das er gesagt hatte, war: »Findest du nicht, daß ihr Gesicht wie belemmert aussieht?«, wobei er sich auf eine bezog, die er »die Ex-Frau von dem Typ, der mit unserer zusammen ist« genannt hatte, ich hatte ihn bestens verstanden, Nachteil oder Vorteil der Tatsache, daß wir Landsleute waren, eine große Frau mit dem Gesicht einer großen Frau, das ist schon problematischer, diese Art Gesicht zu haben, ob man nun groß oder klein ist. »Bestimmt spritzt sie es sich unter die Wangen und die Krähenfüße, literweise, man könnte meinen, sie kriegt nicht mal die Augen zu, womöglich schläft sie mit offenen. Und wie sieht Flavia aus, verdammt. Je nach Blickwinkel wirkt sie wie ein Kobold.« Da stand er, eine groteske Gestalt mit losen, viel zu langen Schnürsenkeln, wie leicht würden sie naß werden in einer Toilette, auch wenn sie wenig benutzt wurde, immer feucht, die Böden. Es war ein Wunder, daß ihn noch kein Unheil ereilt hatte, vor allem während seines letzten, wie besessenen Tanzens, das wir unterbrochen hatten, um Frau Manoia vor seinen pseudohaarigen Züchtigungen zu retten; und um auch ihn vor etwas Schlimmerem zu retten, wie Tupra später, bei sich zu Hause, gesagt hatte.
»Vielleicht schlafen ja alle Kobolde mit offenen Augen.« Mir fiel nur diese Antwort ein als Einleitung für den Scherz oder die Stichelei; ich fühlte das Lachen kommen, und ich wollte nicht, daß er es als Begnadigung oder Huldigung auffaßte (so eingebildet der Attaché), also versuchte ich aus dem Stand, es in andere Bahnen zu lenken: »Du solltest das wissen, du mit deinem Haufen Kenntnissen der universellen phantastischen Literatur, einschließlich der mittelalterlichen, Rafael.« Und ich tat, als müßte ich über meinen Einfall lachen, in Wirklichkeit lachte ich über seine barbarischen Beobachtungen. Doch dann führte ich sogleich ein anderes Element ein, um die mögliche verletzende Wirkung meiner sarkastischen Äußerung abzuschwächen (also waren es eher vier oder fünf Sätze, für die mir Zeit blieb): »Paß auf, deine Schnürsenkel sind aufgegangen.« Und ich wies mit dem Zeigefinger auf seine Füße.
De la Garza schaute hinunter, ohne die Haltung zu verändern; nun, da er seine Übelkeit oder seine Raserei oder den Schwindel überwunden hatte, mußte es ihm irgendwie schick erscheinen, so dazustehen, halb gestützt und halb geklammert an eine merkwürdige zylindrische Metallstange, auch wenn der Raum prosaisch war und es keine Zuschauer gab (mich konnte er nicht für jemanden halten, der sich beeindrucken ließ). Er schaute von oben auf seine Schuhe, mit einem unerklärlich mitleidigen Gesichtsausdruck, als gehörten sie nicht ihm, sondern einem anderen – mir –, und dann machte er nicht
Weitere Kostenlose Bücher