Dein Gesicht morgen: Tanz und Traum (German Edition)
sie vorzeitig zu beschneiden, besser, man läßt ihr ihre ganze Zeit, damit sie geglaubt werden kann.‹
Plötzlich – oder so war es nicht, vielmehr merkte ich es erst nach einer Weile – sah ich, daß die Lichter gegenüber, die der Tänzer, gelöscht, ihre Fenster geschlossen waren. Sie hatten die Veranstaltung irgendwann beendet, während ich beim Klang von »Tanas Thema« eingenickt oder eingeschlummert war, dieses Pianola würde erst dann aufhören, wenn ich es mit meiner Fernbedienung dazu zwang, oder es würde niemals fertig werden mit dem Abschiednehmen (lebt wohl, ihr heiteren Freunde; denn ich sterbe; ich werde euch nicht mehr sehen, und auch ihr werdet mich nicht mehr sehen; und leb wohl, Glut, lebt wohl, ihr Erinnerungen). Ich hatte nicht auf die Straße geachtet, ich war nicht noch einmal an das Fenster getreten, um aufzupassen, wer herauskam, welche der beiden Frauen, ob eine oder beide oder keine, jetzt sollte man nachsehen und nach einem dort abgestellten Fahrrad Ausschau halten, aber die Tatsache, daß keines dastand, würde jeder Bedeutung entbehren, seine Besitzerin konnte es heute abend nicht genommen haben, sie konnte mit dem Bus, mit der Metro oder mit dem Taxi gekommen sein, was einmal geschieht, muß sich nicht wiederholen, obwohl wir die idiotische Neigung haben, das Gegenteil zu glauben, vor allem, wenn das, was geschieht, uns gefällt; so wie es auch nichts bedeuten würde, wenn eines dastünde, ein Fahrrad, es könnte jedem beliebigen gehören. In Wirklichkeit war mir nicht das mindeste daran gelegen, ich würde nicht ans Fenster treten und den Platz ausspähen, mir war nur ein wenig daran gelegen, wer aus meiner Wohnung kam oder nicht, das heißt, aus der Luisas und der Kinder im fernen Madrid, oder wer hineinging oder nicht, und blieb; und das konnte ich nicht sehen, die Augen des Geistes taugten nicht, soviel geben sie nicht her. ›Das geht mich nichts an, ich muß mich endlich an den Gedanken gewöhnen‹, dachte ich. ›Auch nicht, wofür Luisa mein unnötiges Geld ausgibt, das ich ihr zuviel schicke, ohne daß sie mich darum bittet, sie weiß, was bitten bedeutet, für beide Teile, und so zieht sie es vor, jetzt, da wir nicht zusammen sind, abzuwarten und es sich zu ersparen: wenn sie etwa der Versuchung ihrer Bekannten und Freundinnen nachgibt und beschließt, nicht das Risiko einzugehen, am Ende eine Ausgestoßene oder Schlampe zu werden, nicht bis morgen und auch nicht bis übermorgen zu warten, um sich irgendeiner Behandlung zu unterziehen, wenn sie will, sich absaugen und implantieren oder mit Hilfe grausiger Bottox-Injektionen aufspritzen zu lassen wie Frau Manoia, wenn sie das froh macht, obwohl ich sie nicht auf diesem Weg sehe, noch nicht, nicht die Luisa, die ich zurückgelassen und gekannt habe, sie wird noch nicht so anders sein, um ihr Gesicht zu verraten; auf jeden Fall sollte ich diese Arbeit behalten, weiter verdienen, was ich verdiene, und noch mehr, um es ihr zu bezahlen oder für jede andere ernstere Notwendigkeit oder Notlage Sorge zu tragen, obwohl der Versuch, sie zu schützen oder zufriedenzustellen, nicht mehr meine Sache ist, aber wie befreit man sich von dieser Neigung oder es ist Gewohnheit; wie hebt man das auf, in Gedanken.‹
Ich stellte mit der Taste der Fernbedienung die Drehorgel oder das Pianola ab, es wurde Zeit, ich hatte übertrieben, ich hatte mich allzu lange den Phantasien hingegeben, ohne daß es mich gelangweilt hätte, dasselbe zu hören. Ich dachte, wenn ich ganz einschliefe, so, im Sessel, angekleidet, dann würde ich mitten in der Nacht aufwachen, von bleiernen Träumen bedrückt, erstarrt, mit dem Gefühl, schmutzig zu sein, zu frieren. Aber ich konnte mich nicht zu dem Entschluß durchringen, aufzustehen und ins Schlafzimmer zu gehen und mich auszustrecken, wenigstens das. Und ich dachte, nunmehr ohne Musik, in völliger Stille, jetzt war es wirklich spät geworden, nicht für Madrid, wohl aber für London und dort war ich, ein Bewohner mehr dieser großen Insel, die für einige wie Bertram Tupra Heimat war und nicht für mich, es war nur das andere Land, in dem es keine Jalousien und auch kaum Gardinen oder Fensterläden gibt, und so dringt das Mondlicht in alle Zimmer, wenn der Himmel unbewölkt ist, oder die mondhaften Laternen, wenn er bewölkt ist, als müßte man dort beim Einschlafen immer ein Auge offenhalten: ›Ich muß mich an den Gedanken gewöhnen, daß es mich nichts angeht und daß ich außerdem nichts bin in
Weitere Kostenlose Bücher