Dein goettliches Herz entflammt
eine Steintafel aus einem Regal und sagte, dort stehe die Geschichte eines kleinen Mädchens, das so gewesen sei wie ich. Mein Vater nannte sie Nebelgeborene.«
»Nebelgeborene«, wiederholte ich.
»Ja. Weil der Nebel alles verdeckt, was sich darin befindet. Und so bin ich. Ein großes Fragezeichen, verstehst du? Niemand weiß, welche Fähigkeiten oder Bedürfnisse ich haben werde oder welche Flüche auf mir lasten, bis sie sich zeigen. Einige der Nebelgeborenen haben Blut gebraucht, um zu überleben. Einige brauchen es nie. Einige können das Verlangen kontrollieren.«
»Oh.« Ich spürte, wie mir warm wurde, und rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum. »Und, ähm, welcher Typ bist du?«
Er schüttelte den Kopf und starrte mit unbewegter Miene an mir vorbei ins Leere. »Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung, ob und wann ich Blut brauche.«
Das beruhigte mich ja enorm. Um ein Haar hätten meine Finger den Pappbecher zerdrückt. »Wie viele von euch gibt es?«
Er hob beide Hände und lehnte sich zurück. »Er sitzt vor dir.«
»Einen? Du bist der Einzige?«
»In Nordamerika. Ich glaube, in anderen Teilen der Welt gibt es noch ein paar. Wie ich schon sagte – es kommt nicht oft vor, dass wir geboren werden.«
»Und was ist mit Crank? Sie ist doch deine Schwester.«
»Jenna ist nicht meine Schwester, Ari. Jedenfalls nicht meine biologische.«
»Aber…« Ich runzelte die Stirn.
Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Diese Stadt bringt einen dazu, sich mit anderen zusammenzutun. Du findest andere, die so sind wie du, von denen du weißt, dass du ihnen dein Leben anvertrauen kannst, und dann wird man eine Familie. Das lernt Violet gerade. Und deshalb bleibt sie inzwischen auch immer öfter bei uns.« Er zuckte mit den Schultern, als wäre es ihm peinlich, so viel von sich zu erzählen und zu zeigen, dass er ein Herz hatte. »Jenna hat ihre Eltern verloren und dann auch noch ihren Bruder. Seitdem ist sie ein bisschen gestört. Ich habe sie gefunden, als sie neben seiner Leiche saß. Sie hat mich für ihren Bruder gehalten und ist mit mir mitgegangen. Ich habe nie versucht, es ihr zu erklären, weil ich ihr nicht noch mehr wehtun wollte. Das ist ihre Art, damit fertigzuwerden. Sie denkt sich etwas aus.«
Es zerriss mir das Herz, als ich das hörte. »Wie ist er gestorben?«
»Ich weiß es nicht genau. Ich habe die beiden in Midtown gefunden, das ist das Geschäftsviertel. Die Ruinen. Nachts solltest du dort nie hingehen und tagsüber auf keinen Fall allein. Die Gegend ist ein Zufluchtsort für alle möglichen zwielichtigen Gestalten. Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, warum die Novem nicht einschreiten. Sie lassen lieber zu, dass die Bösen unter uns die Ruinen übernehmen, als das Risiko einzugehen, dass sie auch im Quarter oder im French District auftauchen.«
Er starrte aus dem nassen Fenster. »Ich glaube, es hat aufgehört zu regnen.« Ich drängte ihn nicht weiterzuerzählen und insgeheim wusste ich auch, warum: Ich wollte seine Fragen nicht beantworten, wenn ich an der Reihe war. Und ich hoffte, dass er dann genauso rücksichtsvoll sein würde wie ich jetzt. »Willst du mit auf den Markt? Ich habe den anderen gesagt, dass ich fürs Abendessen einkaufen gehe.«
»Ja, klar.«
Von dem Café aus war es nur ein kurzer Spaziergang über den Jackson Square bis zum French Market am Fluss. Als wir die überdachte Fläche betraten, kam die Sonne hinter den Wolken hervor. Touristen und Einheimische hatten dort Schutz vor dem Regen gesucht und im Innern wimmelte es nur so von Kunden. Sebastian schien genau zu wissen, was er kaufen wollte, doch ich ließ mich einfach treiben, sah mir alles an und fragte mich, wer von den Passanten menschlich war und wer nicht und ob ich – weil ich eine Doué war – irgendwie einen Unterschied bemerken würde.
Aber mir fiel nichts auf. New 2 war auch ein Zufluchtsort für Anhänger heidnischer Religionen, Wiccaner und alternative Lebensentwürfe, daher hatte der Stil der Kleidung oder der Schmuck, den sich jemand durch die Haut stechen ließ, nichts zu bedeuten.
Nachdem ich den Versuch, etwas Ungewöhnliches zu entdecken, aufgegeben hatte, lief ich zwischen den Ständen hindurch, von denen mir der Duft nach Kaffee, Brot und frischen Blumen in die Nase stieg und hin und wieder sogar der Geruch des Flusses, der von einer leichten Brise in den Markt getragen wurde.
An Mardi-Gras-Ständen wurden Ketten aus Glasperlen, Masken und Kostüme verkauft. Bald
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