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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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die er selbst nicht versteht. »Ein Zeichen sind wir, deutungslos, / Schmerzlos sind wir und haben fast. / Die Sprache in der Fremde verloren.« Der Musiker in München sagt, daß die Anrufer – nein, nicht du, doch der Freund aus Köln meint die Botschaft zu verstehen – eher Kraft kosteten, bei aller Wertschätzung. Schon den Krankenbericht zu wiederholen strenge ihn an, weil er sich jedesmal neu erklären müsse oder, so komme es ihm jedesmal vor, rechtfertigen. Andere Leute wiederum seien offenbar so höflich, daß sie in der Not nicht stören wollten. Die ausbleibenden Nachrichten von sehr nahen Freunden fühlten sich an wie ein Schubsen und Sprechen: Na geh doch. Und die kleinsten Zeichen, wenn auch noch so still, wie eine Einladung zum Bleiben.
    Der Vater findet sich tapfer damit ab, keine Krankheit zu haben, die heilen könnte, sondern ein Herz, das nie mehr schlagen wird, wie es soll, die eine Herzkammer zu groß oder die andere zu klein, was weiß denn der Sohn, der als einziger nicht Medizin studierte. Kanäle werden blockiert, die Leitungen des Schrittmachers spielen eine Rolle, eine neuerliche Operation sei riskant, bei einem Jüngeren könnte man es probieren – aber in dem Alter? Der Vater selbst sieht ein, daß er schon achtzig ist und die Ärzte sich solche Fragen stellen, die auch er selbst stellte, als er noch praktizierte: Lohnt sich das noch? Gott habe ihm ein so erfülltes Leben geschenkt, wie könne er sich jetzt beklagen? Immerhin sind die Werte der Prostata in Ordnung. Zuerst hieß es, die Prostata sei zu groß geworden, die gleiche Prostata, die schon einmal Krebs beschert hatte. Als er von der Prostata erfuhr, wo er doch wegen seines Herzens im St. Marien liegt, sei er schon angeschlagen gewesen, sagt der Vater. Als ob eine Krankheit nicht reiche, habe er gedacht, als ob der Tod diesmal besonders gründlich vorgehen wolle. Als die Krankenschwester Entwarnung gab, bat er darum, sie vor Freude umarmen zu dürfen, der achtzigjährige, strenggläubige Vater. Na, ich habe ihr nur einen Kuß auf den Kopf gegeben, auf die Haare, spielt er selbst es herunter. Weil die Mutter mit den Brüdern zur reunion nach Amerika geflogen ist, fährt der Sohn jeden zweiten Tag nach Siegen den Vater besuchen, der alles strikt ablehnt, was den Eindruck erweckt, man würde sich um ihn kümmern. Ich bin doch keine achtzig, scheint er wieder zu denken, wenn der Sohn ihn bedrängt, nach der Entlassung aus St. Marien nach Köln zu kommen, solange er in Siegen allein wäre. Die Haut sieht an manchen Stellen wie zerknülltes Papier aus. Die Medikamente entziehen Wasser, erklärt er dem Sohn. Die Frau meinte, daß doch nichts akut sei an den Befunden des Vaters. Nein, nein, erwiderte der Sohn, es ist nicht akut. Es ist nur, daß das Herz nie mehr schlagen wird, wie es soll. Für einen Achtzigjährigen ist das alles andere als eine Sensation, weiß der Vater nur zu gut, dem Gott ein so erfülltes Leben geschenkt. Auf der Rückfahrt von Siegen buchte der Sohn für morgen früh um sechs – also Abflug in fünfundzwanzig Stunden – einen Flug nach Athen, weil es seit Tagen regnet, die Ältere den Urlaub nach allen neuerlichen Aufregungen verdient, wenn die Familie schon nicht zur reunion nach Amerika fliegen kann, und der Vater sich überreden ließ, für eine Woche bei der Schwiegertochter zu wohnen, die sonst allein sei mit der Frühgeborenen. Er ist achtzig und seit der letzten Diagnose ganz zart geworden.
    Auf der Fähre fällt ihm eine Episode mit dem Vater ein, der Sohn ungefähr so alt wie die Ältere heute. Auf der Rückfahrt von Frankfurt, von wo die Mutter irgendwohin geflogen war, nach Iran wahrscheinlich, ein Todesfall, fragte der Vater ihn, ob er hungrig sei. Schon ein bißchen, ja, stammelte der Sohn, der annahm, daß der Vater selbst Hunger habe und deshalb frage. Sie haben nie auf Raststätten gegessen, so häufig sie nach Spanien fuhren, höchstens gefrühstückt wegen des Koffeins, da die Thermoskannen mit Tee gefüllt waren. Sie hatten immer alles dabei, in Kühltaschen und Plastiktüten, so daß Raststätten für den Sohn beinah zum Sehnsuchtsort wurden. Nur von der Autobahn, den Tankstellen oder vom Teppich aus, den die Eltern auf dem Gras neben den Parkplätzen ausbreiteten, hatte er die Raststätten zu sehen bekommen. Außerdem waren sie

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