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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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3 Wochen Aufenthalt entlassen.« Der Freund kümmert sich nicht, nicht um den Musiker, nicht um den Bildhauer. Daß die Frühgeborene Koliken hat, beschäftigt ihn mehr. Karl Otto Hondrichs Witwe erreicht er wieder nicht. So viele sind es gar nicht, gibt dafür der berühmte Schriftsteller am Telefon zu bedenken, die das eigene Werk wirklich kennen. Er bilde sich nicht ein, daß die Mehrheit der Jury auch nur ein einziges Buch von ihm gelesen habe. Das meine er auch gar nicht. Er meine, daß er jetzt, da er sich Gedanken machen mußte über einen Laudator, bemerkt habe, wie wenige überhaupt in Frage kommen, die nicht nur das eine oder andere Buch kennen, sondern sein Werk verfolgt haben. Der Erfolg scheint nichts an dem Eindruck zu ändern, ins Leere zu schreiben, für niemanden, sondern hilft allenfalls, das Selbstgespräch besser zu ertragen. Die Rezensenten vergießen nur noch Hohn und Spott, »abgeschmackt«, heißt es oder »höchst lächerlich«, »Nonsens mit Prätension gepaart«; »für den seltenen Sterblichen, der die neun Gedichte von Hölderlin zu verstehen sich rühmen kann, sollte ein stattlicher Preis ausgesetzt werden, und wir würden selbst den Verfasser nicht von der Mitbewerbung ausschließen«. Schiller und Goethe rezitieren seine Sophokles-Übersetzung als ein Witzblatt, wie Heinrich Voß sich zu berichten beeilt, »Du hättest Schiller sehen sollen, wie er lachte«. Anhand der vollständigen Dokumentation, die der Herausgeber zusammengestellt hat, zu verfolgen, wie Hölderlins Dichtung fliegt und er selbst stürzt, um die zweite Lebenshälfte in der Umnachtung des Tübinger Turms zu verbringen, die gleichwohl noch einige der hellsichtigsten Verse deutscher Sprache hervorbringt, ist schauderhaft. Selbst der Mutter, die ihm und allen gegenüber bislang immer so steif war, explodieren in den Briefen die Gefühle. Geld will sie ihm ungefragt schicken, der sonst jeder Groschen zuviel war. Dennoch hat sie in den verbliebenen vierzig Jahren ihren Sohn nicht ein einziges Mal besucht, obwohl es von Nürtingen nicht mehr als 28 Kilometer sind, ihm in den zehn Jahren bis 1812 nur einziges Mal geschrieben: »Vielleicht habe ich Dir ohne mein Wissen und Willen Veranlassung gegeben, daß Du empfindlich gegen mich bist.« Das haben Sie wohl, Gnädigste. Bei Sinclair ist es ähnlich. Erst reibt er sich auf für den Freund, holt ihn zu sich, übernimmt alle Ausgaben, zahlt ihm monatlich sogar Geld aus, ein Gehalt für nichts, und dann, einen Eintrag später, fordert er die Mutter auf, Hölderlin wegschaffen zu lassen. Es gebe da kompetente Anstalten (wo sie dem Patienten die Seele zertrümmern, wie es Hölderlin geschah), wird er sich beruhigt haben, wie man sich eben beruhigt, wenn es einen richtig tangieren könnte. In der gleichen Zeit oder unmittelbar davor entstanden die Verse oder arbeitete Hölderlin an ihnen, die über allem stehen, die Elegien und späten Hymnen. Das ist ganz offenkundig. In den abgeschlossenen Editionen und nicht nur als Bruchstücke gelesen, werden sie etwas heller, gerade so viel, daß man sicher ist, sie begreifen zu wollen. Zugleich ist das Bruchstückhafte und immer wieder neu Variierte ihnen wesentlich und kein Hinweis auf die beginnende Verwirrung. Nichts läßt sich mehr fixieren, nichts festlegen. Jede Strophe, die steht, löst sich bei der nächsten Lektüre wieder auf, für Hölderlin wie für den Leser, der über den immer neuen Varianten einzelner Zeilen gänzlich durcheinandergerät. Der nach vorne stürmende, dahinrauschende Rhythmus bricht in den Elegien und späten Hymnen ab, die Melodie hält ein, die Sinnzusammenhänge bis in die Grammatik so ineinander verschlungen, auch rhythmisch so unregelmäßig, so pochend und atmend und eilend und anhaltend, daß man jeden einzelnen Satzteil mit der Pinzette rauszupfen müßte und immer noch nicht den Eindruck hätte, dem eigentlichen Geheimnis auf die Spur gekommen zu sein. Vielleicht übersah Hölderlin selbst nicht mehr, was er notierte, nicht weil sein Geist schon beschränkt gewesen wäre, sondern aufgrund der Beschränktheit des Geistes als solcher. Er weiß genau, daß es etwas bedeutet, deshalb setzt er immer wieder neu an, ohne je an ein Ende, an einen letztgültigen Text zu gelangen. Er ist wie jemand, der eine Sprache spricht,

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