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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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doch schon bald in Siegen, an Gießen schon vorbei. Die Strecke kannte er beinah auswendig, weil die Eltern regelmäßig Besucher aus Iran zum Flughafen brachten oder vom Flughafen abholten. Niemals hatten sie an einer der beiden Raststätten angehalten, auch nicht an den Tankstellen, denn auf der Autobahn ist das Benzin teurer. Und plötzlich bog der Vater kurz vor Siegen ab zur Raststätte, Katzenfurt heißt sie, glaubt der Sohn, der mit seiner älteren Tochter nach Griechenland geflogen ist, Katzenfurt oder so ähnlich, wie in einem Kinderbuch, oder vielleicht ist Katzenfurt oder so ähnlich die Raststätte in entgegengesetzter Fahrtrichtung gewesen, es gab Katzenfurt und Wetterau, glaubt der Sohn, oder Katzenfurt und Dollenberg, und er weiß noch genau, daß sie im Abstand von einigen Kilometern liegen, was ungewöhnlich ist für Autobahnraststätten, denn normalerweise liegen sich Raststätten in Deutschland gegenüber und heißen dann Sauerland Ost und Sauerland West oder so ähnlich. Der hat aber einen Mordshunger, dachte der Sohn, als der Vater vor der Raststätte Katzenfurt parkte. An der Selbstbedienungstheke bestellte der Sohn sich eine Currywurst, und der Vater – bestellte sich nichts. Er hatte überhaupt keinen Hunger, der Vater. Am liebsten hätte der Sohn die Currywurst wieder abbestellt. Zugleich nahm er die Geste des Vaters dankbar wahr. Sie setzten sich an einen der festgeschraubten Tische, wo der Sohn verschämt, aber doch auch glücklich die Currywurst aß, während sie sich unterhielten, worüber auch immer. Heute erscheint dem Sohn die Geste aus einem anderen Grund noch bemerkenswert. Eine Currywurst besteht aus Schweinefleisch. Damals hatte er keine Ahnung oder machte sich jedenfalls keine Gedanken darüber. Die Kinder durften immer Currywurst essen. Manchmal holten die Eltern vom Türkengrill zwischen Siegen und Freudenberg viermal Currywurst spezial, extra scharf, viermal mit Fritten, wenn Freunde da waren entsprechend mehr. Der Sohn registrierte, daß die Eltern nie mitaßen (die Mutter naschte manchmal oder aß aus unaufgebbarer Gewohnheit die Reste, die allerdings von der Currywurst nie blieben, nahm die Gebote immer etwas laxer, nippte auf Einladungen schon mal am Wein, hielt gleichwohl das Ritualgebot ein, fastete im Ramadan und flog nach Mekka). Dem Sohn war schon damals bewußt, daß die Mutter niemals Schweinefleisch einkaufte, daß es Schweinefleisch einfach nicht gab oder niemandem schmeckte. Vielleicht war die Currywurst vom Türkengrill aus Rindswurst, das kann schon sein (andererseits war der Laden immer voller Deutscher, für die Würste doch aus Schwein sind), aber die Söhne durften auch in gewöhnlichen Imbißbuden Currywurst essen, die nicht so spezial waren, so extragroß und extrascharf, unterwegs, zum Beispiel, wo weit und breit kein Türke grillte. Auch für Besuche bei Freunden wurden keine Eßvorschriften erteilt. Der Sohn ist im nachhinein sicher, daß der Vater sich Gedanken darüber machte, während sie sich auf der Raststätte Katzenfurt oder Wetterau an der A45 zwischen Gießen und Siegen gegenübersaßen und worüber auch immer unterhielten, daß der Vater sich Gedanken darüber machte, ob es richtig sei, daß die Söhne immer dieses Schweinefleisch essen, ob er nicht mal etwas sagen solle – und der Vater sprach oft mit den Söhnen über Gott, bemühte sich, sie im Geist des Islam zu erziehen. Nicht einmal mit einem Stirnrunzeln deutete der Vater etwaige Gedanken an, nicht in Katzenfurt, nicht später. Auch daraus besteht die Geste, die der Sohn nachzuahmen versucht.
    Der Urlaub mit der Älteren entpuppt sich als Übergangszeremonie. Sie feiern, was war (daß alles so gutgegangen ist, letztlich!), und schwören sich für das ein, was sie auseinanderführen wird. Sie ist erst acht, aber im letzten Jahr mehr als nur ein Jahr gewachsen, wirkt auch auf die Lehrer und Verwandten verständiger, selbstbewußter, abgeklärter, kommt nach den Ferien ins vierte Schuljahr und also nächstes Jahr schon aufs Gymnasium. Die Pubertät wird mit allen existentiellen Sorgen einsetzen, die er wieder für übertrieben halten wird, was den Sorgen eine weitere hinzufügt, weil Papa auch nicht mehr das ist, was er damals in Griechenland noch war. Auf dem Weg ins Dorf malten sie sich den Vater zum Ladenhüter geworden aus

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