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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Staatskarosse. Wenn alle Vertreter des Establishments Wahlkampf auf Feldwegen betrieben, hätte das Land ein paar Brunnen mehr und ein paar Folterer weniger, denkt der Berichterstatter. Was hat denn der Aufstand gebracht? fragt ihn die Koalitionspartnerin und zeigt Anzeichen von Erregung: daß wir heute über die Autonomie glücklich wären, die wir vor dem Aufstand hatten. Kaschmir lehrt nicht nur, wie weit Demokratien gehen können. Erschreckender ist vielleicht noch, wie weit sie kommen, wenn sie der Armee nur ausreichend Ressourcen und Vollmachten erteilen. Ein Soldat auf zehn Einwohner und äußerste Härte – das reicht, um noch das widerspenstigste Volk in die Knie zu zwingen. Als der Berichterstatter auf halber Wegstrecke aussteigt, um nach Srinagar zurückzukehren, weist ihn die Koalitionspartnerin auf einen nahe gelegenen Schrein hin, das Grab eines Mystikers. – Soll ich dort für Sie beten? fragt der Berichterstatter. – Nein, beten Sie für Kaschmir.
    Am 18. August 1990 übernachtete Jawed Ahmad Ahangir, Schüler der zehnten Klasse, bei seinem Cousin in der Stadt, mit dem er für das Examen lernte. Gegen drei schlugen Soldaten an die Tür und riefen: Jawed, ist hier ein Jawed? Der Onkel öffnete das Fenster, auch Jawed Ahmad Ahangir schaute heraus: Ich bin Jawed. Soldaten zerrten ihn aus dem Fenster und schlugen auf ihn ein. Umsonst die Schwüre der Mutter, daß der Junge nichts mit dem militanten Widerstand zu tun habe, ohnehin viel zu jung sei und vor dem Examen stünde. Später stellte sich heraus, daß im Nachbarhaus ein Militanter wohnte, der den gleichen Vornamen trug. Jaweds Mutter hat ihren Sohn nie wiedergesehen. Mit ihrem Mann, einem einfachen Bauern, zog sie von Kaserne zu Wache, von Wache zu Behörde, von Behörde zu Ministerium. Einmal hieß es tatsächlich, Jawed Ahmad Ahangir sei festgenommen worden und liege derzeit in einem Militärkrankenhaus. Erfolglos fragte sich seine Mutter von Krankenhaus zu Krankenhaus durch. 1994 gründete sie mit anderen Angehörigen vermißter Söhne eine Selbsthilfegruppe, der heute sechshundert Familien angehören. Das ist keine fancy NGO mit Computern und jungen, englischsprachigen Aktivisten, die wissen, wie man Öffentlichkeit und Gelder – manchmal nur Gelder – akquiriert. An den Ausläufern Srinagars, schon beinah am Flughafen, ein zwölf Quadratmeter großes Zimmer eines heruntergekommenen Hinterhauses, die Wände vor einer Ewigkeit giftgrün lackiert, bis auf einen Schreibtisch aus Metall und ein paar Stühle keine Möbel – dort sitzt Jaweds Mutter, von dort arbeitet sie, wie sie sagt, vierundzwanzig Stunden am Tag daran, ihren und die anderen Söhne zu finden, die der Krieg geraubt, eine so traurige wie entschlossene Frau, die unterm gelben Kopftuch älter aussieht als ihre fünfundvierzig Jahre. Mal wurde ihnen eine Millionen Rupien angeboten, falls sie ihre Kampagne aufgäben, mal sechshunderttausend plus eine Anstellung, mal vom Militär, mal vom Bundesstaat. Manche Familien sind darauf eingegangen. Der Berichterstatter möchte wissen, ob Jaweds Mutter einen Unterschied zwischen dieser und den vorherigen Regierungen in Srinagar sieht. – Nein. Oder doch: Die neue Koalition hat beschlossen, einen DNA -Test vorzunehmen, wenn Leichenteile gefunden werden. Manche Tote konnten dadurch identifiziert werden. Sie vertraue auf Gott, daß ihr Sohn nicht als Kadaver wiederkehrt. Die Behauptung des Chief Ministers, wonach dieses Jahr zum ersten Mal seit Ausbruch des Aufstands keine Vermißten mehr gemeldet worden sind, könne schon stimmen. Die Armee wolle solche Fälle nicht mehr. Sie sei dazu übergangen, die Leichen auf einem Feld oder entlang einer Straße abzulegen, mit einem Maschinengewehr in der Hand. – Es gibt also keine Vermißten mehr, sondern nur noch Tote? fragt der Berichterstatter nach. – Ja, derzeit haben wir keine neuen Mitglieder, bestätigt die Mutter. Was ist ihre Hoffnung für Kaschmir? – Die Armee soll sich zurückziehen! antwortet sie: Ich bin keine politische Aktivistin. Ich kämpfe nicht für die Unabhängigkeit Kaschmirs. Wenn mein Sohn nach Hause kommt, das ist meine Freiheit.
    Eine weitere indische Familie ist gestern abend eingetroffen, ihrem Lärm nach, der den Berichterstatter lange nicht schlafen ließ, etwa in der gleichen Zusammensetzung wie die Familie des

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