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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Ingenieurs aus Kalkutta, ein Mann, Frauen, weinende, übermüdete Kinder, vielleicht auch nur ein Kind. Der Mann, der gerade aufs Deck getreten ist, sprach den Berichterstatter vorhin auf hindi an und war konsterniert, daß dieser nicht zum Personal gehörte. Der Berichterstatter weiß nicht, ob der neue Gast kein Englisch spricht oder mit ihm nicht sprechen möchte. Dafür grüßt ihn gerade die Frau des Ingenieurs. Ansonsten scheinen indische Frauen der Mittelklasse nicht die Angewohnheit haben, vom ersten Tag an auf den Gruß eines männlichen Zimmernachbarn einzugehen. Vielleicht aus Mitleid haben sie dem Berichterstatter gestern erstmals zugenickt, als er zum Abendessen wieder allein vor dem Chicken Curry saß – Alleinsein scheint wie in Iran nur den Heiligen zumutbar –, haben gelächelt sogar, heute morgen auch die große Tochter, die einen Kopf größer ist als der Berichterstatter, pummelig und aussieht wie siebzehn, keine Umstände, die es einer Dreizehnjährigen leicht machen. Wenn sie aufs Boot zurückkehrt, schaltet sie im Salon den Fernseher an, noch bevor sie aufs Zimmer geht, meistens Quizsendungen. Gestern abend verfolgte der Berichterstatter in seiner Idylle auf dem Dal-Kanal frierend und mit einem Auge die Fernsehserie um einen Jüngling, der sich bislang vergeblich um die Schöne bemüht, aber heute kommt die Fortsetzung. Die auch für östliche Verhältnisse umwerfende Herzlichkeit aller Kaschmiris, mit denen er näher zu tun hat, wird von den abweisenden oder jedenfalls skeptischen Blicken kontrastiert, die ihm auf der Straße begegnen. Ob man ihn für einen Inder hält? In den Moscheen werden die Blicke nicht einladender, vielleicht weil am meisten die Überläufer gefürchtet werden. Kaschmiris, sagte der Bootsherr, als er heute morgen den Jasmintee brachte, Kaschmiris erkennen sich, wo immer sie sich begegnen, ob Hindus oder Muslime, und wenn es in der Ferne passiert, dann weinen sie, während sie sich umarmen. Im Laufe der neunziger Jahre haben fast alle Pandits, wie sich die kaschmirischen Hindus nennen, das Tal verlassen, etwa sechshunderttausend Menschen. Der Ingenieur aus Kalkutta meint, daß die Pandits nicht von einzelnen, fanatischen Gruppen in die Flucht geschlagen worden seien, sondern von den Massen. Der Bootsherr hingegen beteuert, daß die indische Armee einigen Terroristen bewußt freien Lauf gelassen habe, die Pandits in Angst und Schrecken zu versetzen, damit die Muslime als Barbaren dastanden. Was der Bootsherr dann sagt, würde der Ingenieur nicht bestreiten: Wir haben in den achtzehn Jahren nicht nur hunderttausend Menschenleben verloren, nicht nur unsere Wirtschaft ruiniert und eine Generation herangezogen, die nichts anderes als Krieg kennt. Wir haben unser Ansehen verloren, unsere Würde. Die Welt hält uns für Taliban. – Nein, möchte der Berichterstatter trösten, so ist es nun auch wieder nicht. Er verschweigt den Grund: daß die Welt sich überhaupt nicht um Kaschmir kümmert, allenfalls dunkel noch die Enthauptung eines westlichen Touristen erinnert. – Dann rangieren wir eben knapp hinter den Taliban, klagt der Bootsherr. Als es zu den Übergriffen kam, habe er oft bei seinen hinduistischen Freunden übernachtet, um sie zu schützen, nicht nur er. Jetzt würde er sie am Telefon zur Rückkehr drängen. Die Pandits hätten in der Regel die bessere Ausbildung, meint er, sie würden gebraucht, vor allem in den Schulen, wo jetzt die Lehrer fehlten. Der Ingenieur findet, daß sich das Drängen der Kaschmiris in Grenzen hält, und verweist darauf, daß sich noch kein muslimischer Führer öffentlich für die Vertreibung entschuldigt habe. Das stimmt, antwortet der Bootsherr auf den Einwand, den sich der Berichterstatter zu eigen gemacht hat, aber bei sechshunderttausend indischen Soldaten, die uns alle Knochen gebrochen haben, ist es vielleicht zuviel verlangt, daß wir öffentlich Abbitte leisten und Demonstrationen abhalten für die Rückkehr unserer Hindus. Während der Berichterstatter der Quizsendung zuhörte, las er die Reisechronik eines Engländers aus dem neunzehnten Jahrhundert, der die Ausbeutung der Muslime durch die Pandits schildert und an die britische Kolonialverwaltung appelliert, endlich einzugreifen: »Everywhere the people are in the most abject condition.« Es werden nicht nur ein paar militante

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