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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Gruppen gewesen sein, die das asienübliche Wir-sind-alle-Brüder mehr im Sinne Kains auslegten. Auf die Brutalität der Armee angesprochen, die er nicht rundherum bestreitet, verweist der Ingenieur aus Kalkutta jedesmal auf die Vertreibung der Pandits. Gleichzeitig beteuert er, daß es eigentlich keinen Haß zwischen Hindus und Muslimen, Indern und Kaschmiris gebe, und fragt, wie es im Nahen Osten sei. Der Berichterstatter sagt, daß ein Israeli nicht ohne weiteres allein durch Hebron oder ein Palästinenser durch eine israelische Siedlung spazieren könne. Und in Deutschland? Der Ingenieur kennt natürlich die Berichte von verprügelten Ausländern, Indern darunter. Auch in Deutschland gebe es Orte, antwortet der Berichterstatter, die jemand mit dunkler Hautfarbe besser meide. Das sei in Kaschmir unvorstellbar, wundert sich der Ingenieur. In Kaschmir könne jeder Inder hingehen, wohin er will, ohne die geringsten Schwierigkeiten zu haben oder sich um seine Sicherheit zu sorgen. Er selbst sei nirgends freundlicher aufgenommen worden. Der erste Händler des Tages, der am Hausboot nicht nur vorbeigefahren, sondern es gleich geentert hat, läßt den Berichterstatter links liegen und preist den Indern die Qualität seiner Lederjacken an, vergeblich, obwohl die Jacken doublelined sind, wie der Händler mehrmals erwähnt. Auch er scheint den Berichterstatter mit seinem Laptop dem Hausboot zuzuschlagen, versucht es nicht einmal mit seinen doppelt genähten Jacken, sondern bedankt sich nur, als jener ihm mit seinen Beinen den Rückweg auf die Gondel frei macht. Jetzt zieht wieder der Paris Photo Service vorüber, dann sicher bald auch der Supermarkt und die Gondolieri, die fragen, ob der Berichterstatter seine versprochene Bootsfahrt denn heute anzutreten gedenke.
    In der Luft des Mattin-Suriyat-Tempels liegt Frieden, wirklicher Frieden: Sikhs, die an der Tempelwand Kricket spielen, muslimische Männer, die sich auf der Wiese fläzen, ein paar ältere Pandits, die dem Berichterstatter einen Stuhl anbieten. Weder die indische Regierung noch die Koalition in Srinagar tue etwas, um die Vertriebenen zurückzuholen oder sie wenigstens zu entschädigen, beklagen sie und lassen asienüblich nichts auf ihre Nachbarn kommen. Von den zwei Ermordeten des Dorfes sei einer der muslimische Wächter des Tempels gewesen, den die auswärtigen Kämpfer für einen Hindu gehalten hätten. Zwei Frauen sieht der Berichterstatter, die mit den Händen im großen Wasserbecken spielen, die Jüngere von himmlischer Schönheit, wie man sie in Märchen geschildert bekommt, Sekundenverliebtheit, sie oder tot, fragt die beiden, ob sie hier wohnten – ja – und wie das Leben jetzt für sie sei – gut. Es klingt ehrlich, und so freut er sich, daß auch jüngere Pandits noch in Kaschmir anzutreffen, bis sich herausstellt, daß die Frauen Musliminnen sind. Für das Foto zieht die Himmlische leider das Tuch über den Kopf, als ob sie sich in dem Becken mit allen Märchenwassern gewaschen hätte. Von fünfhundert Hindu-Familien, die einst hier lebten, sind dreizehn geblieben und fast nur die Alten von ihnen. Rings um den Tempel abgebrannte Häuser, leerstehende Häuser, an einem Fluß Verkaufsstände für Ausflügler. Die Farben der Süßspeisen, die Farben der herbstlichen Wälder, die Farben der Felder und Wiesen, die Farben der Saris – man muß nicht überlegen, welche Farbtöne man sieht. Man muß lange hinschauen, bis man herausfindet, welchen Ton die Frauen meiden, nämlich nur grau, ansonsten sämtliche Grund- und Mischfarben in allen erdenklichen Kombinationen, gelegentlich schwarz oder weiß, und bei aller Vielfalt harmonisch wie durch einen Automatismus. Der Berichterstatter fährt weiter nach Osten, durch Dörfer mit engen Gassen und Steinhäusern, die mehr nach Schweiz als nach Südasien aussehen. Die extreme Armut, sonst in Indien allgegenwärtig, scheint es in Kaschmir nicht zu geben. Die Familien besitzen Grund. Aufgrund seiner Autonomie ist Kaschmir der einzige Bundesstaat, der nach der Unabhängigkeit die Bodenreform durchsetzen konnte. Hinzu kommt das Geld, das Indien und Pakistan während des Krieges nach Kaschmir pumpten, um die Führer des Widerstands entweder zu stärken oder zu kaufen. In den neuen Villen sitzen die alten Warlords. In dem Wahlbezirk, durch den er tags zuvor in der

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