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Stoffmütze erscheint das Gesicht noch schmaler. Müde Augen, leise, klar artikulierte Stimme, gutes Englisch. Zwei Tage zuvor wurde er mit Gewalt daran gehindert, das Freitagsgebet zu leiten â nicht etwa von der Armee, sondern von Kaschmiris, genau gesagt von den Anhängern einer rivalisierenden Widerstandsgruppe, die von der Forderung nach einem Plebiszit abgerückt ist. Vielleicht weil ihm die Demütigung noch in den Knochen steckt, umarmt er ein paar Sekunden länger als üblich und still den Berichterstatter, der noch etwas von ihm will. Als der Extremist meint, den Berichterstatter frieren zu sehen, bringt er ihm aus dem Nebenraum eine Decke, obwohl er einen Diener rufen könnte, sich selbst ebenfalls. So sitzen sie sich eingemummelt gegenüber. Der Berichterstatter versteht den Standpunkt des Extremisten völlig, den Wunsch nach Selbstbestimmung, den dieser gut begründet, mit gleichbleibender Ruhe und Bestimmtheit. Ausführlich schildert der Extremist die Greueltaten der indischen Armee, insbesondere die Vergewaltigungen, die Zwölfjährige vor der Mutter, danach die Mutter vor der Zwölfjährigen und so weiter. Das Problem ist, daà er leider nicht übertreibt, allenfalls ignoriert, daà die Ãbergriffe rückläufig sind. Die Berichte, wonach die Aufständischen ebenfalls morden und miÃhandeln, verwirft er als indische Propaganda. Daà er für den Anschluà Kaschmirs an Pakistan eintritt, hält der Berichterstatter auf der Grundlage seiner eigenen Kenntnis Pakistans, mit Verlaub, für keine so gute Idee, ohne es direkt zu formulieren. Der Extremist strahlt eine solche Würde aus, daà man als Jüngerer nicht gern offen widerspricht. Die Pakistanis selbst sind doch von der Forderung nach einem Plebiszit abgerückt, wendet der Berichterstatter schlieÃlich ein. Als ob die Pakistanis in Pakistan etwas zu sagen hätten, wehrt der Extremist den Einwand ab. Nicht die Pakistanis seien vom Plebiszit abgerückt, sondern der pakistanische Präsident: Wieder einmal ist Kaschmir verraten worden.
Verräterin? Auf die Frage, ob sie sich als Inderin bezeichnet, antwortet die Vorsitzende der Koalitionspartei ohne zu zögern: Ja, natürlich bin ich Inderin. Ich bin Kaschmiri und Inderin. Wenn in den vergangenen Jahren überhaupt einmal ein westliches Fernsehteam den Weg nach Kaschmir fand, porträtierte es die Koalitionspartnerin gern als Hoffnungsgestalt: eine Frau in mittleren Jahren, geschieden, die ihre Landsleute beschwört, von den Waffen zu lassen, und zugleich ihre Stimme gegen die Verbrechen der indischen Armee erhebt, eine muslimische Jeanne dâArc der Diplomatie, koranfest und feministisch. Als der Berichterstatter sie in ihrer Villa aufsucht, ist sie viel mehr Politikerin, als die Archivmappe vermuten lieÃ, wie vorformuliert die Antworten, nicht weil sie unglaubwürdig wirken, sondern weil ihm keine Fragen gelingen, die sie nicht vielfach schon beantwortet hat. Daà sie überlegt, die Koalition zu verlassen, weil der Chief Minister nicht genügend Druck auf die Armee und die Zentralregierung in Delhi ausübe, hat immerhin den Wert einer Lokalmeldung, wie der Berichterstatter später erfährt. Es sei doch auffällig, spielt auch die Koalitionspartnerin auf die faked encounters an, daà sich immer dann ein terroristischer Anschlag ereigne, wenn der Ruf nach dem Rückzug der Soldaten lauter werde. In ihrem Ambassador â der indischen Limousine, die man aus Agatha-Christie-Filmen kennt â und mit vierzehn Militärfahrzeugen Begleitung nimmt sie den Berichterstatter auf eine Tour durch die Dörfer ihres Wahlbezirks mit. Meinte sie in der Villa, daà die kaschmirischen Polizisten weit genug seien, selbst für die öffentliche Sicherheit zu sorgen, gesteht sie auf der Fahrt ein, nicht auf die indischen Soldaten verzichten zu können, die sie bewachen. Die Reiseroute, vor allem die spontanen Abzweigungen und Pausen, die sie anordnet, sind ein Alptraum für ihre Bodyguards, denen der Frust und die Anspannung ins Gesicht geschrieben stehen. Ob es eine Show ist für den Berichterstatter? Wahlen gewinnt sie, indem sie hier einen Brunnen, dort einen Friedhofszaun finanziert, sich die Klagen über den verhafteten Sohn, den miÃhandelten Vater anhört, Namen aufschreibt, sich zu kümmern verspricht. Die Menschen entlang der StraÃen und Feldwege reagieren freundlich auf die
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