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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Uroonkologe, der längst angerufen haben wollte, rufe zurück. »Dies war das eine Wort von Dir. Das andere Wort, das mich in Gedanken stürzte, war Deine Frage nach etwas, was Du in den Erinnerungen meines Vaters gelesen hattest. Allein, daß Du diesem Manuskript überhaupt Beachtung geschenkt hattest, versetzte mich in großes Staunen. Ins Staunen darüber, wie Du, der immer so viel zu tun hat und den so viele Dinge gleichzeitig beschäftigen, die Zeit fandest, die Geduld aufbrachtest und auch die Fertigkeit an den Tag legtest, die Aufzeichnungen Deines Großvaters nicht nur aufzustöbern, sondern sie mit solcher Genauigkeit und Sensibilität zu lesen. Das war eine frohe Nachricht, die ich nie für möglich gehalten hätte, und ein Geschenk des Himmels. Wann immer ich Deine Bücher und Deine Artikel las oder Dich im Fernsehen über den Islam sprechen hörte, dachte ich, wie schade es ist, wie herzzerreißend schade, daß mein Vater nicht mehr lebt, so daß er Zeuge Deiner kulturellen und wissenschaftlichen Arbeit wäre, Deine Bücher studierte und sich in seiner Seele freute, auch wenn ich sicher bin, daß seine Seele lebt und sich freut und in ihren Gebeten Dir und Deinen Brüdern immerfort das Beste wünscht. Und ich bin mir auch sicher, daß das, womit jeder Deiner Brüder auf seine Weise den Menschen dient, seine und die Seele aller Eurer Großeltern erfreut. Aber Dein Interesse für die Erinnerungen Deines Großvaters hatte für mich noch eine weitere, hoffnungsfrohe Botschaft. Endlich fand ich den Antrieb, meine eigenen Erinnerungen aufzuschreiben und damit die vielen Stunden ohne Beschäftigung mit etwas zu füllen, daß meine Seele vielleicht ruhig stimmen wird. Davor hatte ich mehrmals angefangen und es rasch wieder aufgegeben. Ich war bereits zu dem Schluß gekommen, daß das Schicksal mein Leben einfach nicht zu Papier gebracht sehen will. Und vor allem dachte ich: Selbst wenn es zu Papier gebracht würde – welcher Mensch würde es überhaupt lesen wollen? Meine Kinder? Meine Enkel? Die Familie? Nein, niemand. Weder beherrschen sie Persisch noch haben meine Erinnerungen den geringsten Wert für einen anderen als mich selbst. Hin und wieder, meistens zur Unzeit, meldete sich die Sehnsucht zurück, mein Leben doch noch aufzuschreiben, aber dann fiel mir im nächsten Augenblick schon wieder ein, wie unsinnig und nutzlos dieses Begehren ist, und so erlosch allmählich die Hoffnung, und die Sehnsucht gab sich nicht mehr zu erkennen – bis zu der gestrigen Nacht, da ich wieder darüber nachdachte. Plötzlich fragte ich mich, woher ich denn wisse, daß der allmächtige Gott mir nicht die Fähigkeit geschenkt hat, diese Erinnerungen aufzuschreiben? Mir fiel ein, was Du mir gesagt hattest: Und wenn ich das Buch ausschließlich für mich selbst schriebe – woher wisse ich denn, wer sein Leser werden könnte. Vielleicht wird eines Tages auch einer meiner Enkel Persisch lernen und dem Leben seiner Großmutter Beachtung schenken, so wie Du Persisch gelernt hast und dem Leben Deines Großvaters Beachtung schenkst.« Er solle doch bitte noch einmal nachfragen, bittet die Frau und verweist auf das Wochenende, das auch in der Uroonkologie der Kölner Universitätsklinik ansteht. So ungeduldig er am Anfang des Ansatzes war, scheint sein Gemütszustand gerade zurück in die Ergebenheit zu pendeln, die zu mehr als neunundneunzig Prozent gerechtfertigt ist.
    Name? Nureddine Ehmê. Papiere? Nein. Alter? Achtundzwanzig. Geburtsort? Hasaka. Nationalität? Syrisch. Ethnie? Kurdisch. Verhaftet? Ja. Wann? 2003 bis 2005. Gefoltert? Ja. Sichtbare Spuren? Ja. Nureddine Ehmê zieht das rechte Hosenbein hoch und hält dem Beamten den Unterschenkel hin. Michael aus dem Kongo wird als nächstes vernommen, danach Aischa aus Palästina, Hussein aus dem Irak, Nirmaleh aus Sri Lanka. Am Ende verliest der Beamte der Reihe nach alle Namen mit Datum und Ort der Geburt sowie dem Bescheid: Antrag abgelehnt nach Paragraph x, Ausreise bis spätestens nach Paragraph y, Gewahrsam nach Paragraph z. Die meisten stammten aus dem Nahen Osten, das fiel dem Berichterstatter auch auf, Muslime, und die wollen ausgerechnet nach Italien, wo man sie nun wirklich verachtet, nicht nur auf den Titelblättern, sondern auch in den Regierungsparteien, stets mit der Unschuldsfrage, warum sie uns hassen, aber wenn sie sie so

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