Dein Name
fünfundsiebzig), bestehen die Tage sonst nur noch aus Essen und Trinken, Schlafen und den Versuchen, die Langeweile unseres Lebens zu durchbrechen, Ablenkung zu finden von den körperlichen Gebrechen und der Aussicht, daà wir die früheren körperlichen und seelischen Freuden nie wieder erleben werden, die Vergnügungen, Begeisterungen und Lüste. Ãbriggeblieben ist ein Berg aus guten und schlechten, frohen und schmerzlichen Erinnerungen, aus denen sich manchmal die Bilder wie zu einem Film zusammenfügen, den man von weitem sieht. Eine andere Beschäftigung existiert nicht. Wie auch immer â als wir zum Kuchenessen am Tisch saÃen, hast Du zwei Dinge gesagt, die ich zunächst wie so viele andere Dinge, die man den Tag über hört, nicht weiter beachtete. Aber nachts, als ich wach lag, kehrten Deine Worte zurück und lieÃen mich nicht mehr los. Deine liebe Tochter war in Deinem Arm, und in Deiner Hand hattest Du eines dieser Gläschen mit Babynahrung. Wie du ihr zu essen gabst, erhobst Du plötzlich den Kopf, hieltst Deinem Vater das Gläschen mit Babynahrung hin und fragtest: âºPapa, kennen Sie dieses Gläschen noch?â¹ Wir schauten Dich alle an und verstanden nicht, was Du meintest. âºDas ist eines der Gläschen, die ich Ihnen ins Krankenhaus gebracht habe, wissen Sie noch? Es ist übergeblieben.â¹ Dieser eine Satz von Dir rief in der Nacht tausend und abertausend süÃe und bittere Erinnerungen wach, die gar nicht alt und doch schon wie begraben waren. Nun zogen die Bilder eines nach dem anderen an mir vorüber, die bedrohlichen Krankheiten Deines Vaters bis hin zur letzten Herzoperation, die dramatischen Situationen, die Tage, Stunden und Minuten der Krise, die Schreckensmomente, die jeder einzelne von uns durchlitt, und Wochen und Monate voller Anspannung, Streà und Sorge um ihn, die nicht enden wollten ⦠das langsame Verlöschen und Aufflackern und Verlöschen und Aufflackern der Flamme, die ein Leben lang nicht nur unser Haus, nicht nur unsere Familie wärmte und erleuchtete, nicht nur meine Kinder, nicht nur mich mit Liebe und Geborgenheit versorgte, sondern so vielen anderen Familien ein Licht war, denen er half, die Familien der Kriegsversehrten, die Familien der Erdbebenopfer, die Familien der Kinder, denen er eine Schule baute. Ja, besonders in der einen Nacht, in der es den Ãrzten nicht gelang, die Blutung in seinem Brustkorb zu stillen, er kalt dalag und seine letzten Züge zu atmen schien, sah ich und spürte in jeder Pore meines Körpers die Wirklichkeit jenes schönen Gedichtes: âºDas Leben ein Licht, das verglüht / Wir fürchten zu zwinkern in Erwartung der Brise.â¹Â« Bis auf das Gedicht hat der Sohn alles wörtlich übersetzt und nur die Namen vermieden. Das Ergebnis der Gewebeuntersuchung, das bereits für gestern angekündigt war, liegt am Freitag, dem 9. Mai 2008, um 14:46 Uhr noch immer nicht vor. Den Rückruf des Uroonkologen in Geduld zu erwarten ist mühsam genug, aber dann schreckt ihn alle zwanzig Minuten das Klingeln des Telefons auf, weil jemand erfahren möchte, die Eltern, die Brüder, die Schwägerin, der Schwiegervater, der älteste Freund, ob er schon etwas wisse. Immerhin hat der Sohn ermittelt, daà der Befund gestern in der Pathologie vorlag und nur den Uroonkologen nicht erreichte, der allein berechtigt ist, Auskunft zu erteilen; immerhin hat der Sohn schon erwirkt, daà der Befund aus der Pathologie gefaxt wurde für den Fall, daà die Hauspost der Kölner Universitätskliniken noch länger braucht; immerhin hat die Uroonkologie den Eingang am Vormittag bestätigt â nur was in dem Befund steht, das erfährt der Sohn vielleicht jetzt, wenn er den Uroonkologen ein weiteres Mal zu erreichen versucht. »Und jetzt sah ich jene Hoffnung, die zerrann, jenes Licht, das verglühte, am Tisch sitzen und mit Appetit essen, sah, wie er seine Kinder und Enkel betrachtete. Und ich sah, wie schnell alles aus meinem BewuÃtsein verschwindet, aus Eurem BewuÃtsein, aus dem BewuÃtsein von uns Menschen. Wie undankbar wir sind für Gottes unendliche Güte, wie fahrlässig wir mit den Gnaden umgehen, die uns zuteil werden, und wie wenig wir sie â¦Â« Hier überspringt der Sohn zwei, drei Sätze, die des Geläuterten zuviel sind, und ruft statt dessen noch einmal in der Uroonkologie an. ⦠Wieder nichts. Der
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