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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Wunde, aus welcher der Chef der Uroonkologie den Hoden heraufgeholt hat, der blutdurchtränkte Verband, den gewechselt zu bekommen selbst von den anmutigsten Frauenhänden ekelhaft ist, und alle zwei Stunden reißt jemand ohne anzuklopfen die Tür auf, um, mit einem Bein noch im Flur, zu rufen, dann wollen wir mal sehen, die Krankenschwester, der Stationsarzt, die eigenen Brüder, die Visite mitsamt Studenten und Studentinnen, die Nummer 8581 liegt da mit heruntergelassener Hose, alle beugen sich vor, und der Chef der Uroonkologie klärt auf, daß der Anblick optimal ist – ein Witz: optimal! –, und dann hat der Chef der Uroonkologie noch gar nicht davon gesprochen, daß die Nummer 8581 sich einhodig nicht waschen darf, ohnehin zu klapprig ist zum Duschen, den Eindruck hat, bis auf den Stationsflur zu stinken, den Schweiß ja auch mit eigenen Augen sieht, der zwischen Oberschenkeln und Hodensack trieft, besonders am rechten größeren Sack, in dem noch ein Hoden liegt. Der eigene ein Fremdkörper, am abstoßendsten, was einmal Scham war. Der Student im Praktischen Jahr, der erst mit der Hand, dann mit einer Art Polizeistock im Gesäß der Nummer 8581 herumfuchtelte, vergaß nicht den Pflichtsatz aller Urologen, daß das für einen Mann nicht angenehm sei. Woher willst du das denn wissen, fragte sich die Nummer 8581, wie alt bist du denn überhaupt, Bürschchen, daß du mich zu trösten versuchst? Wie zur Strafe diagnostizierte der Student im Praktischen Jahr nebenbei Hämorrhoiden. Gut, nehmen wir die auch noch mit, knurrte die Nummer 8581. Gar nicht so sehr an ihn gerichtet, bemerkte die Psychologin, daß Männer nicht daran gewöhnt seien, die eigenen Geschlechtsorgane auch als Bereich des Schmerzes und der Verunreinigung zu erleben, nicht nur der Lust. Und es stimmt: Bei einem Mann kann schon mal ein Ball oder ein Tritt den Schambereich treffen, gleichwohl sind es doch Ausnahmesituationen, die selten länger als ein paar Minuten anhalten, der Schmerz auch der Verblüffung geschuldet. Für Frauen ist es die Regel. Eine Naherfahrung nicht des Todes, aber des Alters: das Geschlecht nicht nur nutzlos, nicht Quell des Genusses und, ja, Fachgebiet hin oder her, des Stolzes und der Herrschaft, sondern ein häßlicher, quälender, unkontrollierbarer Wicht, der in all seiner Absurdität und Albernheit in der Lage ist, einem Mann das letzte Stück Würde zu rauben, das die anderen Gebrechen übriggelassen haben. Bei den Frauen muß das Altern anders verlaufen, die Nummer 8581 will nicht sagen: weniger schockierend, anders, weil das Geschlecht für sie von der ersten Menstruation an auch das Gegenteil des Angenehmen sein kann, schmerzend, blutend, unrein, wie sie es empfinden beziehungsweise seit jeher empfinden sollen. Daß viele Frauen sich während der Regel oder nach einer Geburt gleichsam asexuell vorkommen, das versteht er nun. Er hat vorher schon gelesen und es liegt schließlich auch nahe, daß die Halbkastration einen Eingriff in den berüchtigten Hormonhaushalt darstellt, einen erheblichen Eingriff, wie es so heißt. Aber was das heißt, auch das versteht er erst jetzt, da die Studentinnen täglich einmal durch sein offenes Fenster starren, als mache es gleich Pieppiep. Abgesehen davon, daß er erstmals seit der Jugend über Tage hinweg nicht einmal die Andeutung eines sexuellen Gedankens hat, wäre eine Erektion, so meint er gelesen zu haben, auch physisch unmöglich, bis der erhaltene Hoden die Funktion des amputierten übernimmt. Hormone hatten bislang nur Frauen. Seit auch noch der Durchfall hinzukommt, alle paar Minuten aufs Klo für einen Tropfen Kot, und die Nummer 8581 darf sich immer noch nicht richtig waschen, kann es auch nicht, weil viel zu schwach geworden, vorne besudelt, hinten besudelt, Magenschmerzen, Leistenschmerzen, Hodenschmerzen, Schwanzversagen – nein, natürlich ist es eine Grenzerfahrung. Außer an die alten Männer von Philip Roth denkt er an den Bestseller einer hübschen Fernsehmoderatorin, die übrigens auch aus Köln kommt, sogar im gleichen Viertel wohnt und die Ausscheidungen, Flüssigkeiten und Gerüche ihrer Genitalien feiert, die Unreinheit, den Schweiß. Gegen den Reinlichkeits- und Idealmaßkult des Fernsehens unterschriebe er gewiß jede Petition, zumal wenn sie von einer Frau vorgelegt würde, die dem Betrieb selbst angehört. Aber ist

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