Dein Name
für Nachbarschaft und Gegenwart ; der wichtigste Vorfall, der in Zeit und Raum sich von ihm entfernt, ist ihm gleichgültiger als der kleinste neben ihm.« Wo andere Romanschreiber Geschichten erzählen, erzählt Jean Paul von der Zeit, und zwar nicht einer angenommenen oder erfundenen Zeit, der Zeit eines Egidius Zebedäus Fixlein, sondern zugleich von der Behauptung, ob konstruiert oder nicht, seiner eigenen realen Zeit, der Zeit eines Jean Paul Friedrich Richters, etwa der 20. April 1794 um 23 Uhr am Anfang des 13. Zettelkastens und noch genauer in den Biographischen Belustigungen , die bis hin zum »Gehirnbohrer der Migräne«, der das Schreiben erschwert, beständig die Gegenwart des Romanschreibers ins Spiel bringen, so wie es in dem Roman, den ich schreibe, am 15. September 2008 2:48 Uhr ist, als der Leser den Namen des Kranken, der sich in einer Rundmail scheinbar an alle Adressen seines elektronischen Verzeichnisses vorsorglich von allen Freunden und Bekannten verabschiedet hat, bis nach China sucht. Selbst die Zeit wird erfaÃt, die während des Schreibens voranrückt, um 2:49 Uhr wegen des Allerweltsnamens zu viele Treffer in der Suchmaschine oder am 1. Mai 1795 um vier Uhr abends »der beklommne Herzschlag, den mir die Ruinen meines Weges gaben«, und genau anderthalb Stunden oder eine Seite später hört der Romanschreiber, der an einigen Stellen Jean Paul genannt wird, drauÃen eine Singstimme und das sogenannte Zügenglöckchen, das die Mönche eines nahe gelegenen Klosters ziehen, wenn ein Mensch im Sterben liegt, damit die Mitmenschen für ihn beten, wie einmal auch das Martinshorn nicht nur eine Funktion für den StraÃenverkehr gehabt haben mag. Jean Paul unterbricht den Roman, den er schreibt, um innerhalb des Romans, den er schreibt, des scheidenden Unbekannten zu gedenken, wie der Leser am 15. September 2008 den Roman, den ich schreibe, um 2:57 Uhr unterbricht, um den Absender der Rundmail, dessen Namen er noch immer nicht einordnen kann, auf freilich ganzen drei Zeilen einer E-Mail alles Gute für die Behandlung zu wünschen. »Wenns auf mich ankäme, scheidender Unbekannter, ich würde die Totenglocke halten und sprachlos machen, damit jetzt in deinen verfinsterten Totenkampfplatz kein Nachhall der entfallnen Erde hineintöte, der dir (weil das Ohr alle Sinne überlebt) so grausam die Minute ansagt, wo du für uns verloren bist, wie sich aufsteigende Luftschiffer durch einen Kanonenschuà den Augenblick melden lassen, wo sie vor den Zuschauern verschwinden.«
Dieser Blick ist unverschämt. Erst einmal hält sich Caravaggio an die Behauptung, daà Holofernes schon schläft, als Judith allein mit ihm zurückbleibt. Auf welches Drama er dadurch verzichtet, hat Hebbel später ausgeführt. Caravaggio, der für den Realismus sonst keine Derbheit scheut, verstärkt sogar das Puritanische des biblischen Buches, indem er Judith herausputzt wie zum Sonntagsspaziergang, die Zöpfchen tadellos, strahlend das weiÃe Hemdchen, gesunde Gesichtsfarbe, keine Spur von Müdigkeit, Anstrengung, Angst. Seit Tagen ist sie im Camp des Diktators, und bei dem Fest, das er ihr zu Ehren gab, muà sie so ausgelassen mitgefeiert haben, daà niemand ihr miÃtraute und der Hofstaat sie ohne Sorgen allein bei dem Schlafenden zurücklieÃ. Es ist schon Morgen. Selbst wenn sie den Wein nicht angerührt hätte, könnte sie unmöglich so frisch aussehen. Schon den ganzen Abend wird Holofernes sie begrapscht haben, wahrscheinlich mit ihr getanzt, ihr Hemd mit seinem Wein und seinem Schweià und seinen Fettfingern beschmiert. Sie hat auch nichts von der Fanatikerin, als die sie die Bibel rühmt, die eher stirbt, als in gröÃter Not das Korn, den Wein und das Ãl anzurühren, das dem Herrn geweiht. Die Ãltesten des eigenen Volks hat sie, eine junge Witwe, beschimpft, weil sie sich am vierunddreiÃigsten Tag der Belagerung â die Vorräte gingen aus, kein Wasser gab es mehr, der Tod aller Bewohner zeichnete sich ab, ringsum hundertachtzigtausend Soldaten â, weil sie sich dafür aussprachen, die Festung zu übergeben. Judiths Plan, allein ins Lager der Feinde zu gehen, um den gewaltigen Holofernes zu töten, ist so tollkühn, daà er praktisch bedeutet, sich selbst zu opfern, ohne Chance, den Feind zu treffen â nicht einmal ein Selbstmordattentat. Judith ist keine Realistin. Ihre
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