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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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interessiert Tizian, vielmehr das je individuelle Staunen der Menschen, die das leere Grab finden. Diese fünf oder sechs Gesichter bieten von leicht- bis ungläubig alle Reaktionen, die das Wunder bis heute hervorruft. Vorm Dom hingen große Plakate der Regierungspartei, die Indianer zeigten. Sie haben Einwanderung zugelassen, stand darauf: Nun leben sie in Reservaten. So freundlich dem Cousin die Menschen begegnen, nimmt er Italien die dreiste Demagogie persönlich übel, aber noch mehr Europa das Schweigen angesichts der Monopolisierung der Macht und der Informationen zu den durchschaubarsten und abstoßendsten Zwecken. Wären nicht die Kunstwerke, ließen ihn sogar die italienischen Städte kalt, jedenfalls im wohlhabenden Norden, die alles erfüllen, was sich siebzig Jahre zuvor Sadegh Hedayat für Isfahan wünschte, die Sehenswürdigkeiten sorgsam restauriert, konserviert und mehrsprachig beschriftet wie auf Postkarten, die Straßen blitzblank, die Gassen autofrei, die Delikatessen dynamisch, die Restaurants rauchfrei, auf den Plätzen malerische Cafés. Ihren Zauber büßten sie ein, indem sie alles richtig machten, was immer noch besser ist, als alles falsch zu machen, wie über Jahrzehnte Isfahan mit seinen achtspurigen Schneisen durch die Altstadt. Während des Gesprächs mit der Cousine in Isfahan hatte er sich keine Notizen gemacht, natürlich nicht, erst zwei Stunden später ungewohnt auf Papier, als er vor einem der neuen Cafés auf der Balustrade rund um den Hauptplatz des christlichen Stadtteils Djolfa zu persischsprachigem Alternative Rock einen Cappuccino trank. Den Platz hat die Isfahaner Stadtverwaltung zu seiner Verblüffung geschmackvoll renoviert, mit bescheidenen und vielleicht deshalb geeigneten Mitteln. Die Holzdecken der Balustrade haben zum Glück immer noch breite Risse, und der Backstein der Säulen harmoniert wie eh mit dem Lehmbraun der Kirchenkuppeln und dem abgeblätterten Blau des armenischen Supermarkts, der Wurst und Wein verkauft, an wen der Inhaber will und nur an wen er will, ob Christ, ob Jud’, ob Muselman. Kaum mehr hat die Stadtverwaltung getan, als in der Mitte einen schlichten Brunnen zu bauen, zwei Bäume und einige Blumen zu pflanzen, gerade soviel, daß die Aufmerksamkeit zu erkennen ist, die dem Platz und mit ihm Djolfa endlich zuteil wird. So entspannt könnte Iran sein, dachte der Cousin, Lehmbauten und Alternative Rock, auf den Parkbänken alte Armenier unter Schirmmützen, einige kecke Touristinnen aus Teheran, denen der Cappuccino zu teuer war, in den Cafés einige junge Isfahanis, die das bedauerten, während der Cousin die Stichwörter eintrug, die er deshalb heute abtippt und vervollständigt, statt sich weiter in Verona umzusehen, weil er das Notizbuch im Flugzeug nach Köln liegenließ und heilfroh war, es vor dem Abflug im Fundbüro abholen zu können. Bevor ihm das noch einmal passiert, will er wenigstens das Gespräch mit der Cousine gesichert haben. Tante Lobat fiel in eine Art Traumzustand, kein Koma, betont die Cousine, denn aus der Ferne registrierte sie, was um sie geschah, wer ins Zimmer trat und vor allem, wer es verließ, als wäre es zum letzten Mal. Der Cousin habe recht, ihre Mutter, ihre sanfte, immer gottesfürchtige Mutter mit der übermenschlich wirkenden Geduld schien wütend geworden zu sein, schien nicht zu begreifen – wie auch? –, warum Gott ihr das antat. Aber nicht mehr gesehen habe der Cousin, weil er schon nach Deutschland geflogen war, daß Tante Lobats Blicke, die jeden Besucher bis ins Mark erschütterten, ganz am Schluß, in der Entrückung, von einem auf den anderen Tag friedlich wurden. – War sie schon zum Engel geworden? fragt der Cousin und denkt an Nasrin Azarba. – Lobat, wo bist du?, fragte die jüngere Tante, die aus Teheran angereist war, um beim Sterben nicht zu fehlen, Lobat, wo bist du, was ist mit dir? Da breitete Tante Lobat, die sich eigentlich nicht mehr bewegen konnte, die Arme zum Dank mit den Handflächen nach oben aus. – Navid, spricht die Cousine den Cousin mit Namen an, Navid, man erfährt Geheimnisse, wenn man jemanden sterben sieht: Das kannst du nirgends studieren, das kannst du nur erleben. Der Onkel bleibt stumm, obwohl das Schweigen ihm die Gelegenheit böte anzumerken, was bei Saadi und Hafis steht. So fährt die Cousine nach einem Schluck Sauerkirschsaft fort,

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