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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Bier bestellt, ohne es bezahlen zu können, da setzte der Bürgermeister die Meldung in die Welt, die Flüchtlinge lungerten in den Bars herum, würden sich kostenlos betrinken und die Touristen anpöbeln. Glaubt man ihm, geht die Insel gerade unter. Tatsächlich, so erzählen fast alle Menschen, mit denen der Berichterstatter ins Gespräch kommt, bemerken sie kaum etwas von den Flüchtlingen. Wer seinen Urlaub in Lampedusa verbringt, interessiert sich nicht für Sehenswürdigkeiten, eine schmucke Altstadt oder schöne Landschaften, die es ohnedies nicht gibt. Er kommt wegen des Meeres. Er will sonnenbaden, schwimmen oder tauchen, zumal wenn es anderswo in Italien zu kalt geworden ist dafür. Keine Realität hindert ihn daran. Für den Berichterstatter ist es anders. Wird er normalerweise von Eindrücken erschlagen, wartet er hier wie ein Angler auf das Eintreffen von Flüchtlingen, um in der kurzen Zeit bis zu ihrem Abtransport überhaupt einen anderen Eindruck zu haben als den eines Urlaubsortes. Auf der ganzen Welt haben die Reichen ihre Methoden verfeinert, mit denen sie die Wirklichkeit aussperren, haben Zäune gebaut, Mauern, Feindbilder, um das Elend nur ja nicht zu sehen, aber daß es ihnen sogar auf Lampedusa gelingt, bei 19.820 Flüchtlingen allein in diesem Jahr und einer Bevölkerung von fünftausend, stellt jede gated community in den Schatten. Nicht daß sie kein Thema wären. O ja, mit ihnen als Thema, fast nur mit ihnen, hat der Bürgermeister die letzte Wahl gewonnen. Das Krankenhaus ist vorher schon nicht gebaut worden, aber jetzt wird es nicht gebaut, weil die medizinische Versorgung den Flüchtlingen vorbehalten ist. So wie die Regierung in Rom die Armee in die Städte geschickt hat, die zu den sichersten der Welt gehören. So wie sie den Notstand ausgerufen hat nicht bloß auf Lampedusa, ach was, nicht bloß im Süden, sondern wenn schon im ganzen Land. Wohlgemerkt: Nicht die Flüchtlinge sind in Not, sondern das Land. Es ist ein freundlicher Menschenschlag hier, ihre Gelassenheit spürt man sofort, wenn man aus der Hauptstadt eintrifft. Bestimmt hat niemand etwas gegen die Afrikaner, Araber und Asiaten, nicht einmal der Bürgermeister, der die Gründe ihrer Flucht zu verstehen behauptet. Man will sie nur nicht bei sich haben, nicht so viele jedenfalls, daß sie nicht mehr als Gäste durchgehen, nicht vor der eigenen Haustür wie anderswo das Atomkraftwerk. Daß man sie gar nicht sieht, reicht nicht. Unsichtbar werden sie erst recht zu Geistern.
    Dienstag, 23. September 2008, 0:04 Uhr. Aus dem Fenster blickt der Berichterstatter in den wankenden Himmel, in den neue Sternbilder zerplatzender Raketen aufziehen. Aufgrund welcher Halleffekte auch immer sind die Böller so laut, daß die Scheiben zittern. Wer schlief, ist seit Mitternacht wach. Im Lager wird man nur den Himmel glühen sehen und blitzen. Man wird nur die Explosionen hören. Wer vor dem Krieg floh, wird meinen, zurückgekehrt zu sein. Auf dem Meer wird das Feuerwerk zu Ehren der Heiligen Jungfrau den Weg leuchten. Wäre es nicht ein Freudenfest wert, daß sie die Reise überlebt haben? 0:12 Uhr: Es ist vorbei, die Bewohner jubeln. Sobald die fünftausend Motorroller sich verstreut haben, könnte der Berichterstatter es mit Schlaf versuchen. Für den Fall, daß in der Nacht Flüchtlinge eintreffen, liegt das Handy neben dem Bett. Um 0:15 Uhr fällt ihm ein, daß er noch immer nicht weiß, ob der Absender der Rundmail an alle Adressen seines elektronischen Verzeichnisses die Behandlung überlebt hat oder nicht. Warum, frage ich mich, hat der Berichterstatter nicht nachgefragt? Gewiß fürchtete er, daß seine Mail nicht mehr zustellbar wäre. Aber vielleicht fürchtete er noch mehr, später einen weiteren Menschen in den Roman aufnehmen zu müssen, den ich schreibe, falls eine Antwort einträfe und sich aus der Nachfrage eine Bekanntschaft entwickelte. Auch der Romanschreiber, der Jean Paul heißt, räumt ein, daß er die Glocke um seiner selbst willen halten und sprachlos machen will, weil er sich die Szene vorstellt, als wirke er selbst mit. »Das Schicksal zieht unser dünnes Gewebe als einen einzigen Faden in seines und kettet unsre kleinen Herzen und unsere nassen Augen als bloße Farbenpunkte in die großen Figuren des Vorhangs, der nicht vor uns herniederhängt, sondern der aus uns

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