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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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Empörung, die Scham und der Gewissenskonflikt Großvaters wären ähnlich gewesen wie die des Grafen F., und zweifellos hätte er im Falle ihrer Schwangerschaft auf der schnellen, heimlichen Trauung bestanden, ganz gleich, wer der Betreffende gewesen wäre und was sie an Einwänden vorgebracht hätte. Sosehr der Sohn die Mutter drängt, auch solche Geschichten aus der Verwandtschaft aufzuzeichnen, die manchmal brutal sind wie ein mexikanischer Thriller, manchmal ergreifend wie Leila und Madschnun, weigert sie sich mit dem Argument, nur von ihrem eigenen Leben zu berichten. Obwohl sie sich immer eine Tochter wünschte, ist sie im nachhinein froh, im Land der Franken kein Mädchen herangezogen zu haben und so nicht dem Konflikt ausgesetzt gewesen zu sein zwischen der Tradition, die ihr nun einmal in Fleisch und Blut übergegangen ist, und den Sitten, die ein Mädchen ringsum erlebt und für natürlich gehalten hätte, zwischen ihrer Erziehung und ihrer Vernunft. Wenn sie vom Flur aus die Freiheit in einem der Kinderzimmer hörte, konnte sie sich noch auf die Lippen beißen, um nicht vor Empörung aufzuschreien, da sie wußte, daß die Söhne nun einmal keine Kinder mehr waren und nach den Maßstäben der Franken nichts Verbotenes taten, aber sie hätte es wahrscheinlich gegen alle Vernunft nicht ertragen, ihre Tochter unverheiratet mit einem Freund zu sehen oder gar vom Flur aus zu hören. Nein, sie lehnt auch nach über fünfzig Jahren die sexuelle Revolution ab und würde dem Sohn breit und ausführlich erklären, welchen Schaden Anstand und Seelen der Franken durch die allgemeine Enthemmung nehmen, wenn das Auslandsgespräch nicht schon teuer genug geworden wäre. – Es ist billiger als ein Ortsgespräch, antwortet der Sohn unterm Headset. Gleichwohl sehnt sie sich keineswegs zurück, wie sie betont: Als zerstörerischer noch für Anstand und Seelen sieht sie die weitreichenden Tabus, rigiden Verbote und nicht faßbaren, um so unheimlicheren Drohungen, mit denen die Lust in ihrer Jugend belegt war. Schon zu ihrer Schulzeit stellten die Jungen den Mädchen so penetrant nach, daß sie sich manchmal kaum auf die Straße traute, heißt es in ihrer Selberlebensbeschreibung, und am Telefon ergänzt sie, daß der Sohn doch nur das Ausmaß und die völlige Normalität der Prostitution in Teheran bedenken müsse, wo wildfremde Autofahrer die Fensterscheiben herunterkurbelten und sogar sie als alte Frau fragten, wieviel sie denn nehme. – Das haben wir nun von einer Islamischen Republik, sagt die Mutter. Das Argument, daß die Begierde um so mehr wächst, je strenger man deren Erfüllung verbietet, hätte vielleicht sogar Großvater eingeleuchtet. Harmlos war sie allerdings auch selbst nicht, wie sie in der Selberlebensbeschreibung zugibt. Zusammen mit ihren Klassenkameradinnen hätte sie fast die Existenz des Hausmeisters zerstört, der sie beim Äpfelklauen erwischte. Dreist beschuldigten sie ihn, sie begrapscht zu haben, und amüsierten sich köstlich darüber, wie dieser gestandene Mann plötzlich um Gnade winselte vor den reichen Gören. – Weshalb fragst du eigentlich? möchte die Mutter noch wissen.
    Die Tür am Eisengitter, das die Mole absperren soll, ist nur angelehnt. Der Zöllner, der ihn fortschicken will, weil er keine Genehmigung hat, begnügt sich nach einem kurzen Wortwechsel damit, daß der Berichterstatter zwei, drei Meter zurückgeht. Heute haben sie offiziellen Besuch, erklärt der Zöllner beinah entschuldigend und nickt in Richtung der beiden Herren in dunklen Anzügen. Die jungen Araber, die auf dem Boden hocken, sind die ersten Bootsflüchtlinge nach Tagen, in denen die See stürmisch war, wahrscheinlich die Vorhut, weil schneller als die anderen. Haben ein Fischerboot geklaut, sagen sie, und sind gestern losgefahren, neun Freunde, alle um die zwanzig, modische Frisuren, die knöchellangen Jeans, wie sie Hip-Hopper tragen, ein Nachdenklicher mit Brille, ein Schönling mit langen Haaren, ein Wortführer betont gelassen. Sonntagsausflügler nennen sie hier die Flüchtlinge, die es auf eigene Faust versuchen, oft spontan, und gegen alle Erwartung auch noch zügig durchkommen, weder abgetrieben noch abgefangen werden, fahren in Tunesien los und betreten keine vierundzwanzig Stunden später das Land der Franken. Die Erleichterung ist

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