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Dein Name

Titel: Dein Name Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Navid Kermani
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ihren Gesichtern abzulesen. Nicht einmal besonders erschöpft wirken sie, wirklich wie Sonntagsausflügler, denkt der Berichterstatter jetzt auch. Die meisten anderen Flüchtlinge sind Tage unterwegs, weil sie große Bögen fahren, um den Patrouillen der FRONTEX -Agentur zu entweichen (Agentur redet Europa sich schön, was tatsächlich eine Armada ist), dreißig, vierzig Menschen auf einem Schlauchboot, die für den Platz an der sengenden Sonne buchstäblich ihr letztes Hemd gegeben haben. Die Ärzte ohne Grenzen, die am Hafen warten, erleben oft den reinen Horror, wenn die Boote eintreffen, Flüchtlinge halb oder ganz tot vor Durst und Erschöpfung, fast alle dehydriert, viele traumatisiert, als Normalfall Verbrennungen, Auszehrung, schwere Übelkeit, Hunger, oft auch Knochenbrüche, und sie, die neun Freunde, sie fahren ohne lang nachzudenken los wie auf eine Spritztour, kein Unwetter, keine Krankheiten, kein Motorschaden, nicht einmal eng haben sie es, nicht einmal Sonne, weil sie alle unters Dach des Kutters passen, und schlüpfen ungläubig durch die Maschen des Paradieses, wie sie Schengen in Afrika nennen. Die Ärzte ohne Grenzen kommen nicht zum Einsatz. Die Zöllner bringen die jungen Männer ins Aufnahmelager, von dort werden sie in ein, zwei Wochen in ein weiteres Lager auf dem Festland überführt. Mit Tunesien existiert noch kein Rückführungsabkommen, deshalb haben sie gute Chancen, nach drei, vier oder seien es acht weiteren Monaten Trostlosigkeit mit einem Ausweisungsbescheid auf die Straße geschickt zu werden, den sie in den Papierkorb werfen werden. Alle wissen das, die neun tunesischen Freunde, die Zöllner, die beiden Herren in dunklen Anzügen, der Berichterstatter. Die meisten Flüchtlinge ziehen ohnehin weiter nach Norden, bekümmern den Staat also nicht, und wer bleibt, wird gebraucht: Ohne die Illegalen, die in Italien zwei, drei Euro die Stunde verdienen, gäbe es in Deutschland keine Pfirsiche für zwei, drei Euro das Kilo. Die Unaufgeregtheit, mit der die neun tunesischen Freunde befragt und nach nicht einmal zwanzig Minuten abgeführt werden, läßt vergessen, daß ihre Situation gleichwohl existentiell ist, der Bruch mit allem, was ihr bisheriges Leben ausmachte, der Beginn eines Lebens, dessen Konturen sie nicht einmal ahnen, in Europa zwar, ja, im Gelobten Land, aber ohne Rechte, ohne Krankenversicherung, ohne soziale Absicherung, fern der Familie, immer in Angst vor der Polizei. Inmitten der Dramen, die sich sonst auf dem Mittelmeer und noch auf der eigentlich abgesperrten Mole im Hafen von Lampedusa abspielen, mutet ihre Schicksalswende wie ein Normalfall an, den es fast nicht mehr gibt.
    Auf Lampedusa herrscht der Ausnahmezustand. Der Berichterstatter parkt seinen Roller am Kirchplatz, um ins Internetcafé zu gehen, und als er zehn Minuten später ins Hotel fahren will, ist er eingeschlossen von einer Marienprozession, für die alle fünftausend Bewohner der Insel ihre Festtagskleidung angezogen zu haben scheinen. Es ist Feiertag, herausgeputzt hat sich der Ort. Daß er auf den ersten Blick keine andere Geschichte bietet, ist die Geschichte. 19.820 Menschen haben die Zöllner und mit ihnen die Ärzte ohne Grenzen auf Lampedusa in Empfang genommen, bereits 19.820 Menschen allein in diesem Jahr plus den neun Tunesiern von heute, aber im Dorf sieht man von ihnen nichts. Ihr Lager, ein, zwei Kilometer außerhalb hinter einem Hügel, ist auf keiner Karte verzeichnet, durch kein Schild ausgewiesen und nur mit Sondergenehmigung zu betreten, die zu erlangen man sämtliche Fragen eine Woche im voraus schriftlich einreichen muß. Nur am Hafen könnte man einen Blick auf die Flüchtlinge werfen, in der kurzen Spanne zwischen Landung und Abtransport, doch nur vom Hügel aus, der sich über dem Ort erhebt, da vor der Mole selbst Betonklötze die Sicht versperren. Wie gesagt, das Tor ist offen, jeder könnte zur Anlegestelle schlendern, doch das unternimmt nur ein Berichterstatter, der sich Lampedusa als wer weiß welches Inferno vorgestellt hatte. Wie die Ärzte ohne Grenzen erzählen, war es früher möglich, aus dem Lager herauszuspazieren, der Stacheldraht hatte einige Löcher, aber was sollten die Flüchtlinge schon ohne Geld auf einer Insel unternehmen, auf der sie nicht einmal untertauchen können? Einmal hatten sich drei, vier Schwarze im Dorf umgesehen und sogar ein

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